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ß. Referate. Anthropologie.
105. M. Kende: Die Entartung des Menschengeschlechts, ihre
Ursachen und die Mittel zu ihrer Bekämpfung. Halle a. S.,
Marhold, 1902.
Verfasser vertritt, ohne überall weitblickende Kritik zu zeigen und
ohne wesentlich Neues beizubringen, die Ansicht von einer allgemeinen
Degeneration der heutigen Kulturmenschheit. Seine Vorschläge zur Abhülfe
sind ziemlich mutig; unter anderem befürwortet er die Abschaffung der
Strafbestimmungen für Fruchtabtreibung. J)r. Warda Blankenburg in Th.
106. Felix Peipers: Konsanguinität in der Ehe und deren Folgen
für die Descendenz. Allgem. Zeitschr. für Psychiatrie, 1902.
Bd. LVIII, S. 793.
Verf. hat die Frage auf der Basis einer grösseren Beobachtungsreihe
erneuter Untersuchung unterworfen. Die häufig herrschende Abneigung
gegen konsanguine Ehen wird durch die Geschichte und die Völkerkunde
nicht begründet; wo das Verbot herrscht, dürfte es falsch sein, dasselbe
stets durch hygienische Rücksichten erklären zu wollen. — Bei primitiven
Volksstämmen mit dem Mutterrecht ist interessanterweise die Ehe mit
mütterlichen Blutsverwandten untersagt, mit den männlichen dagegen erlaubt;
umgekehrt dort, wo das Vaterrecht herrscht. Bei manchen Eheverboten
der Kirche, welche es stets besonders verstanden hat, die Abneigung gegen
konsanguine Ehen gross zu ziehen, können physiologische Gründe nicht
maassgebend gewesen sein (wie z. B. zwischen Stiefvater und Stieftochter),
sondern sociale und ethische. Bei den Südslaven ist es z. B. untersagt,
die Verwandte eines Wahlbruders zu ehelichen. Westmark glaubt, das
Verbot konsanguiner Ehen sei ursprünglich gegen jene gerichtet, welche
unter einem Dache wohnten und habe verschiedene Wandlungen durchge
macht und sei ethischen Ursprungs; näher liegt es, dasselbe mit der Furcht
vor allgemein eintretender Promiskuität zu begründen.
Man hat als Folgen konsanguiner Ehen bekanntlich angeborene Taub
stummheit, Retinitis pigmentosa, Idiotie, Sterilität, Neigung zu Psychosen
hingestellt, wobei befürchtet wird, dass entweder die Blutsverwandtschaft
an sich schuld sei oder dass krankhafte Anlagen der Eltern in der Descendenz
in potenziertem Grade wieder erscheinen, während die Konsanguinisten das
bestreiten und behaupten, dass die Vererbung auch bei Konsanguinität den
selben Gesetzen wie sonst folge. Jedenfalls ist die Frage noch nicht spruch
reif; vor allem fehlt der Vergleich mit Listen nicht blutsverwandter Ehen
und andererseits der Nachweis, dass krankhafte Anlangen der konsanguinen
Eltern auszuschliessen waren.
Nach Lorenz, welcher in seinem bekannten Buche der Behandlung
der Folgen von Verwandtschaftsehen einen breiten Raum giebt, ist die Ver
wandtschaft und die Ahnen gern einschaft der einzelnen Familien des Volkes