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B. Referate. Anthropologie.
Die Entartung der Kulturnationen beruht zum grössten Teil auf einer
falschen Richtung der Kultur und im Übermaass angewandter Reizmittel.
Natürliche Lebensweise, Abhärtungsmittel, Enthaltsamkeit, Verbesserung der
Volkshygiene kann der Entartung entgegegenwirken.
Dr. Kellner- Untergöltzsch.
378. W. Kruse: Entartung. Zeitschrift für Socialwissenschaft,
1903. Bd. VI, S. 359—376 und 411—434.
K. wendet sich gegen die landläufigen Begriffe der Entartung, wie
sie heute von vielen Anthropologen bei den meisten Kulturvölkern ange
nommen wird. Die Annahme einer Tendenz der Zivilisation, die Rasse zu
verschlechtern, indem sie die natürliche Auslese im Kampfe ums Dasein be
schränke, lässt er nicht gelten; er führt aus der Völkerkunde die Busch
männer, Weddas, Australier, Lappen an, welche der natürlichen Auslese
noch am meisten unterworfen wären, aber doch nicht die vollkommensten
Vertreter der menschlichen Art darstellen. In ähnlicher Weise bestreitet
er die vermeintlich üblen Folgen der „militärischen Auslese“, durch welche
infolge der Kriege die Blüte der männlichen Jugend vorzeitig vernichtet
werden solle, und führt die rasche Regeneration der männlichen Bevölkerung
an, wie sie nach den völkermordenden Kriegen aus der französischen Revo
lutionszeit, zur Zeit des Napoleons I., sowie nach dem deutsch-französischen
Kriege aufgetreten ist. Die Möglichkeit, auf theoretischem Wege zu end
gültigen Schlüssen zu gelangen, hält K. überhaupt als ausgeschlossen, da
man es immer nur mit Möglichkeiten zu thun hat, aus welchen der eine
Entartung, der andere Fortschritt folgert, und beide zum Teile Recht haben
können. Als viel wichtiger hält er die Ergebnisse der statistischen Beob
achtung und zwar vorzugsweise solche über die Sterblichkeit. Aus den
Sterblichkeitstabellen verschiedener Länder ergiebt sich, dass die Mortalität
der Bevölkerung, mit Ausnahme des Säuglingsalters, erheblich abgenommen
hat. In Preussen ist die Sterblichkeit vom J. 1875 bis 1899 in fast allen
Altersklassen seit 20 Jahren um 10—40 Prozent gefallen. Dieser Umstand
ist in erster Linie auf die Besserung der Lebensbedingen und auf die
hygienischen Vorkehrungen zurückzuführen; es gilt dies besonders von den
Infektionskrankheiten. Während in den Dreissigerjahren in Preussen auf
je 10000 Einwohner noch 4,2 Prozent an Cholera, 2,6 an Pocken starben,
sank in den Jahren 1890—1899 dieses Verhältnis bei der Cholera auf
0,05 Prozent, bei den Pocken auf 0,015 Prozent. Eine Ausnahme macht
hiervon die Influenza. Aus dem Umstande, dass die Zahl der an Tuber
kulose, an allgemeinen Ernährungsstörungen, sowie an Organkrankheiten
Verstorbener im Vergleiche zu den früheren Jahrzehnten nachweislich stets
im Sinken begriffen ist, folgert K., dass man von einer Entartung des
heutigen Menschengeschlechtes nicht schlechthin sprechen dürfe, dass hin