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A. Original arbeiten.
Brasilien Zeuge, wie bei Prozessionen die Pfarrer, das Allerheiligste
tragend, unter einem Thronhimmel einhergingen. Wenn in Polen
und Lithauen die Juden am Thorafeste mit dem Rabbi, der die
Thora in seiner Hand trägt, zur Synagoge ziehen, wird über dem
„Meister“ von eigens dazu erwählten jungen Leuten ein Baldachin
getragen, 1 ) vor und neben welchem die Ältesten der G-emeinde ein
hergehen. Indem C. v. Hügel erzählt, dass er zu Baramulla in
Kaschmir einen vornehmen Priester der Sikhs auf reich mit seidenen
Teppichen umhangenem Throne sitzen sah, 1 2 ) liegt der Gedanke an
den Thronhimmel vielleicht nicht allzu ferne; und vielleicht liegt
er noch näher bei der Erzählung Heuglins, dass in der feierlichen
Marschordnung Theodors von Abessinien der Etschege, das ehr
würdige, nächst dem Abuna höchste Oberhaupt der geistlichen Kon
gregationen, mit weissem Gewände und Turban angethan und mit
einem ungeheuren indischen Sonnenschirm bewaffnet, einherschritt. 3 )
In den Tempeln der Kalmüken erblickt man nicht selten das Bild
des obersten Gottes von einem Baldachin überschirmt. 4 ) Der heilige
Mahmel-Teppich, der alljährlich auf dem Grabe des Propheten
niedergebreitet wird, bildet auf einem viereckigen Gestell einen
Baldachin. 5 )
Erhellt aus derartigen Thatsachen die religiöse Bedeutung des
Baldachins, so ist es wohl noch leichter, die höchst auffallende Be
ziehung desselben zur Braut darzulegen. Nach einem uralten, nicht
nur im Orient beobachteten Herkommen pflegt die jüdische Braut
unter einem Baldachin getraut zu werden, und Henriette Herz
weiss zu erzählen, dass sie selber als blutjunges Mädchen unter
einem Baldachin getraut wurde. Bei Klemm liest man, dass die
abiponische Braut unter einem auf Stangen ausgespannten Zeuge,
das acht junge Mädchen über ihr halten, nach dem Hause ihres
Zukünftigen schreitet. 6 ) Zu Skogboland in Upland ist es bräuch-
lich, dass während der kirchlichen Einsegnung von vier jungen
Mädchen ein Himmel über dem Brautpaar gehalten wird. 7 ) Wenn
Junker, der einen Hochzeitszug in Chartum beobachtete, meldet,
dass die Braut nebst einigen anderen Frauen unter einem an vier
1) G. Jaquet, Die Juden Polens und Lithauens. S. Aus a. Weltteilen
XVI, S. 103.
2) Harnisch, Die Weltkunde. Leipzig 1855. XIV 508.
3) Heuglin, Reise nach Abessinien. Gera 1874. S. 359.
4) v. Lanken au und v. d. Ölsnitz, Das heutige Russland. Leipzig.
1. Aufl. I 249.
5) Sepp, Jerusalem und das heilige Land. Schaffhausen 1873. II 805.
6) Klemm, Die Frauen. Dresden 1859. I 32.
7) Weinhold, Die deutschen Frauen in dem Mittelalter. Wien 1882. 1390.