Buchbesprechungen
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Helmut Nemec, Schätze der Volkskunst. Forum Verlag, Wien 1976. 254 S.,
zahlr. Abb., z. T. in Farbe.
Eine eigenartige Diskrepanz zieht sich durch diesen Band, den man auf
den ersten Bück. - schon des Titels „Schätze der Volkskunst“ wegen - unter die
rein populären Bücher rechnen würde. Dieser Eindruck wird auch beim ersten
Durchblättern des umfangreichen Bildteiles verstärkt, der in einem Sammel
surium alle Arten volkstümlicher Kunstübung abbildet, wobei manchmal Dinge
gezeigt werden, die eher der zünftigen Handwerkskunst zuzurechnen sind;
(der verwirrende Eindruck entsteht auch dadurch, daß die Objekte landschaft
lich geordnet sind, was aber erst beim Lesen der Beschriftungen auf fällt). Weiter
trägt zur Verstärkung dieses flüchtigen Eindrucks die Art der Photos bei: tech
nisch gute, große Vergrößerungen, die die Gegenstände jedoch nicht auf ver
laufenden Hintergrund freigestellt, zeigen, sondern auf gemustertem Pseudo
trachtenstoff oder vor geschnitzten Stuhllehnen, vor bemalten Schränken oder
auf intarsierten Tischplatten.
Titel, Bildauswahl und Art der Abbildungen machen dieses Buch also zu
einem populär anmutenden Werk; ebenso das Kapitel „Für Sammler und Lieb
haber“, das, zusammen mit kurzen Bemerkungen „Zu den Objekten“ den um
fangreichen Textteil abschließt.
Davor aber - und das überrascht zunächst - finden sich ausführliche Kapitel
mit den Überschriften „Zur allgemeinen Problematik“, „Volkskunst - Versuch
einer Deutung“ und „Vom Hausfleiß zum Handwerk“. Besonders das Kapitel
zum Deutungsversuch des Begriffes „Volkskunst“ interessiert natürlich in erster
Linie den Volkskundler, der sich in den letzten Jahren auf jede neue Ver
öffentlichung in dieser Richtung stürzt.
Zunächst einmal berührt darin die allzu häufige Parallelisierung der Volks
kunst mit künstlerischen Äußerungen Geisteskranker, Kinder und „Naiver“ -
diese Gleichsetzung oder zumindest dieses In-die-Nähe-rücken erweckt stets
Mißtrauen und die Befürchtung einer falschen Beurteilung dessen, was man
nach allgemeinem Konsensus gewillt ist, Volkskunst zu nennen, nämlich die
unreflektierte Umsetzung einer „inneren Bilderwelt“ (Lenz Kriss-Rettenbeck) in
überlieferten Darstellungsformen und mit überlieferten Darstellungsmaterialien.
Andere Vergleiche jedoch, aus der Medizin und aus der Psychologie, erschei
nen neu und aufschlußreich: so etwa die Frage nach der Quantität des Ein
flusses von Genotyp und Phänotyp beim Individuum und - analog dazu - bei
der Gemeinschaft und bei Einzelpersönlichkeiten. Diese Parallele aus der Natur
wissenschaft mag gewagt erscheinen, doch überzeugt sie an dieser Stelle und in
diesem Zusammenhang; sie setzt dem Traditionskontinuum die Initiative des
Einzelnen gegenüber.
Auch der vom Autor schon früher verwendete Begriff der „Traditionsstarre“,
der das retardierende Moment in der Volkskunst bezeichnen soll, trifft die
Problematik der Stilverschleppung sehr überzeugend. Überhaupt findet der
aufmerksame Leser hier eine sorgfältige Zusammenstellung der wichtigsten
Diskussionsbeiträge um die Frage „Was ist Volkskunst“ der letzten Jahrzehnte.
(Den wichtigen Aufsatz von Lenz Kriss-Rettenbeck „Der Hund ,Greif' und die
Frage ,Was ist Volkskunst'“, Pantheon 33, 1975 konnte der Autor wohl noch