Thomas Sokoll
Einblick in das Leben der Menschen unterhalb der alphabetisierten Ober
schichten zu gewinnen. Wir sind auf indirekte Hinweise angewiesen, doch
gerade hier bestehen in England phantastische Möglichkeiten der Datenmo
bilisierung. 3 Dieses Land besitzt nämlich ein dichtes Netz von — modern
gesprochen — „Lokalverwaltungsakten“, die bis ins 14. Jahrhundert zu
rückreichen und es zumindest für einzelne dieser lokalen „Verwaltungsein
heiten“ gestatten, über längere Zeiträume hinweg Informationen über po
tentiell alle Mitglieder solcher verwaltungs- bzw. herrschaftsmäßig abge
grenzten „historischen Gemeinschaften“ 4 zu erfassen.
Im Spätmittelalter sind dies die Aufzeichnungen der grundherrschaftli
chen Verwaltung und Gerichtsbarkeit (manor court rolls), die weite Teile des
dörflichen Lebens und seiner materiellen Bedingungen abdecken. Seit dem
ausgehenden 16. Jahrhundert ist dann die Struktur der englischen Lokalver
waltung für die Qualität und Reichhaltigkeit der hinterlassenen Quellen mit
entscheidend. Die einzelne Gemeinde (parish, eigentlich: Kirchspiel) war
die unterste weltliche und kirchliche Verwaltungseinheit und besaß als sol
che weitgehende Selbständigkeit (die gesamte Armenpflege etwa wurde bis
1834 auf gemeindlicher Ebene besorgt). 5 Gleichzeitig war sie, ihrer Doppel
3 Macfarlane / Harrison / Jardine (1977, 27—33) halten England für die neben dem alten
China und Japan am reichhaltigsten dokumentierte Gesellschaft für den historical
community- Ansatz.
4 Macfarlane / Harrison / Jardine (1977, 3—4), schlagen vor, den Begriff „community“ nicht
normativ, sondern ausschließlich technisch-deskriptiv zu verwenden, zur Beschreibung der
jenigen räumlichen und sozialen Einheit, deren Daten ausgewertet werden sollen. In diesem
Sinne verwende ich den Begriff „Gemeinschaft“ als Übersetzung des englischen „communi
ty“, das ebensogut, je nach Zusammenhang, mit „Gemeinde“ wiederzugeben ist. Interessant
für den Unterschied zwischen „Gemeinschaft“ in der deutschen Denktradition und „com
munity“ als Forschungskonzept, das im angelsächsischen Sprachraum vor allem von der So
zialanthropologie entwickelt worden ist, der Überblick bei Calhoun (1980, 107—16). Dort
auch einige interessante Punkte zum Verhältnis von Rechtssystem und Lokalverwaltung in
England.
5 Bis zur Reform der Lokalverwaltung im 19. Jahrhundert gab es in ganz England über 10.000
parishes, deren Durchschnittsgröße gegen Ende des 17. Jahrhunderts mit 200—500 „Seelen“
veranschlagt werden kann. Für einen kurzen instruktiven Abriß siehe Laslett (1971, 55—-
66). Viele der im Zusammenhang gemeindlicher Selbstverwaltung entstandenen Aktenbe
stände enthalten vielfältigere Informationen als man zunächst annehmen sollte. So enthalten
z.B. die accounts der Armenpfleger nicht nur deren Buchführung, sondern häufig detaillier
tes Material zur Haushaltsgröße und -Struktur der betreffenden Gemeinde. Für die ersten
Volkszählungen (ab 1801) hatten nämlich die Armenpfleger die Formblätter auszufüllen,
und offensichtlich benutzten sie einfach in einigen Fällen ihre account books, um die für die
Zensuslisten erforderlichen Informationen zusammenzustellen und ihre Antworten „ins
Unreine“ zu schreiben. Erwähnenswert ist ferner, daß bereits vor 1801 Armenpfleger, Ge
meindevorsteher, Pfarrer oder andere teilweise sehr ausführliche Einwohnerlisten anlegten,
einfach als Hilfestellung für die eigenen Verwaltungsaufgaben. Diese listings bilden die
Grundlage der Berechnungen der mittleren Haushaltsgröße bei Laslett (1972b).
16