Die poetische Natiirbeseelung bei den Griechen .
Yon Alfred Biese .
Es ist gewiss eine unleugbare Tatsache , dass in dem Charakterbilde der alten Hellenen , dieses Yolkes der Schönheit und der Sophrosyne , einer der hervorstechendsten Züge jener wunderbare plastische Sinn ist , welcher nicht nur in den Gebilden ihrer Skulptur , sondern auch in der gesamten Richtung ihres Geistes überhaupt , wie sie sich in Mythologie und Poesie wiederspiegelt , so glänzend vortritt . In dieser Prägstätte des plastischen Sinnes wurden die mit so großer Empfänglichkeit aufgenommenen eindrücke zu lebensvollen Gestalten , welche , den Menschen gleich , die sie geformt , in Wald und Feld , in Luft und Wasser sich betätigend geahnt , geliebt oder gefürchtet wurden . Alle die Dämonen , welche die rege Phantasie der Griechen in der Außenwelt wirksam sich dachte , sind nichts andres als der „ plastisch - religiöse Ausdruck eines innigen Naturgefühls " , wie Lehrs einmal von den Nymphen sagt . Aber wie man seit Schiller sich gewöhnt hatte , ein inniges Naturgefühl den Griechen abzusprechen oder wenigstens die stimmungsvolle , mit süßer Wehmut und Empfindsamkeit gepaarte Hingabe an die Natur mit dem objectiv - plastischen Sinne der Griechen unvereinbar zu finden — während doch in der Zeit des Euripides durch die Subjectivität und Reflexion der Sophisten die Naivität immer mehr dahin schwand und sich im Hellenismus
Zeitschrift für Völkerpsyeh . und Sprachv . Bd . XX . 3 . jg