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Antinomie betreffend die zeitliche Priorität ( resp . Causalität ) zwischen Sprechen und Denken nicht einen wirklichen Cirkel , sondern findet dieselbe lösbar durch die schon von Tiede - mann angenommene Wechselwirkung ( S . 75 . 76 ) . Ganz lich verhält es sich mit der nahe verwandten Streitfrage , ob man von Menschwerdung vor oder erst nach der schöpfung reden dürfe ; auch dies ist ein leerer Wortstreit , der mitten entzwei geschnitten werden muss . — Ganz gelungen , aber eben auch sachlich weniger schwer und streitig , ist die Darstellung der allmählichen Umbildung der lichen« Zeichen in conventionelle , mit Vergessen der lichen Bedeutung , Umwandlung und Differenzirung der Form u . s . w . ( S . 97 ff . ) ; auch die Entstehung bloß formeller Bestandteile und eines gleichförmigen Satzbaues ist den Resultaten und Postulaten der Sprachwissenschaft gemäß erklärt ( S . 107—126 ) .
Richtig ist ferner die Wendung , mit der M . seine »Schlussbetrachtungen« eröffnet ( S . 135 ) , dass die Sprache , wenn sie ungefähr auf dem angegebenen Wege entstehen konnte , so entstehen musste . Wohltuend ist das in diesen Schlussbetrachtungen hervortretende Streben , die denen Ansichten möglichst billig gegen einander auszugleichen und besondere Anerkennung verdient noch die keit , womit M . auch die Einseitigkeit eines Hauptvertreters seiner Ansicht zurückweist , indem er ( S . 144 ) die von Whitney versuchte Zusammenstellung oder Gleichsetzung der Sprache mit beliebigen Zweigen der Cultur und Kunst und den von ihm gebrauchten Ausdruck »Erfindung« der Sprache als passend verwirft . Eine Parallele zwischen der Sprache und jenen andern Gebieten kann man wohl ziehen und sie ist lehrreich , gerade weil sie ergibt , dass zwischen beiden nicht bloße Verschiedenheit des Grades , sondern der Art selbst stattfindet . Die Sprache hat denn doch zum menschlichen Geist ein innigeres Verhältnis als Kleidung und Wohnung , deren »Erfindung« ohne eine bereits vorangeschrittene wicklung der Sprache und Geselligkeit kaum denkbar ist .
Zürich , April 1876 . Ludwig Tobler .