Das EpoS ,
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die dritte , homerische , übergegangen sein möchten , wie sie vor - her aus der ersten zur zweiten übergegangen waren ; und außer Zweifel steht , daß die Deutschen bis ins 12 . Jahrhundert der ersten Form huldigten , ähnlich ihren skandinavischen Brüdern , und dann erst sich zur organischen Form erhoben , und zwar innerhalb desselben Kreises von Stoffen ; denn der Stoff der Nibelungen wurde schon durch 5 Jahrhunderte in der ersten Form besungen , wie es in der Edda ebenfalls geschieht . Aber das allerdings will ich mit der Behauptung des absoluten Un - terschiedes gesagt haben , daß der Uebergang zu einer höhern Form einen Umschwung , eine Revolution im dichtenden Geiste bildet . Es müssen sich ganz neue poetische Forderungen im Gemüthe und in der Phantasie des Volkes erhoben und geltend gemacht , ein ganz neuer poetischer Blick muß sich aufgethau haben ; eine ganz neue Couception muß eingetreten , eine ganz neue Idee herrschend geworden sein . Wir wissen nicht genau , unter welchen Umständen im alten Hellas die homerische Dich - tung sich erhob ; aber wir wissen doch , daß sie nach einer völli - gen Umgestaltung der Wohnsitze und Herrschafts Verhältnisse des Urgriechenthnms auftrat und mit dem Emporkommen der Joner in Klein - Afien zusammenhängt ; und wir wissen , daß in Deutsch - laud im 12 . Jahrhundert die neu auftretende Epik mit einer Erhebung des gesammten Nationalgeistes , mit der Einführung eines neuen poetischen Mittels , des Reimes , ja mit dem Auf - blühen einer neuen Sprache , des Mittelhochdeutschen im Gegen - satze zum Althochdeutschen , verbunden war .
Solch ein Umschwung im dichtenden Volksgeiste ( ganz ver - schieden von dem fälschlich angenommenen Uebergange der agglu - tinirenden Sprache in die slexivische ) ist möglich , ist historisch nachweisbar und psychologisch begreiflich . Dann wird entweder ein neuer Stoff für die poetische Bearbeitung ergriffen , oder , wenn der alte Stoff beibehalten wird , so wird ihm doch ein ganz neuer Keim eingepflanzt . Die alten Gedichte müssen völlig verworfen und aus dem neuen Geiste heraus ganz neue Lieder in völlig anderer dichterischer Stimmung geschaffen werden . Wenn man auch noch denselben Stoff wie früher besingt , so