Sanna Schondelmayer
halt, daß meine Eltern das auch gemerkt
haben — das muß für die super schlimm ge-
wesen sein. Ja und das war voll lange so,
daß ich auch nicht mit meiner Mutter durch
die Innenstadt laufen wollte. Hatte immer
Angst, daß mich jemand sieht .“
Seit sie auf das Gymnasium ging, viel zu
lesen begann und zu Diskussionen ange-
regt wurde, erschienen ihr ihre Eltern auf
einmal dumm und ungebildet und verloren
in Filiz‘ Augen immer mehr an Autorität
und Vorbildfunktion. Der sichere Umgang
mit Schrift und Geschriebenem ist ein we-
sentlicher Bestandteil der deutschen Erzie-
hung, d.h. Texte interpretieren, Inhalte
hinterfragen, sie umformulieren um sie
zum Beispiel der Gegenwart adäquat anzu-
passen. Nichts davon konnte sie bei ihren
Eltern wiederfinden, die nur eine sehr ge-
ringe und völlig anders angelegte Schulaus-
bildung genossen hatten.'* Das zeigt sich
für Filiz besonders am Beispiel der Religi-
onsausübung.
„Meine Eltern haben auch nicht so ‘ne aus-
differenzierte Religion. Ja, das ist schon so
eine Bauernreligion — mit irgendwelchen
Gesetzen, die man dann so befolgen muß —-
ich kenn ‘ich im Islam halt auch gar nicht
aus — das ist nicht so, daß ich das richtig
kennengelernt hätte, weil ich in der Koran-
schule war und wie man vielleicht denken
würde, das richtig studiert und verstanden
habe, sondern das war halt mehr dieser
fromme Gehorsam - und dieser Koran, der
war bei uns auf dem Bücherregal und ir-
gendwelche Koransuren bei uns in der Kü-
che mit Goldverzierungen.“
Das Gefühl, den Eltern überlegen zu
sein, wurde noch durch Filiz’ Position in
der Familie verstärkt. Die Position, die tra-
ditionell dem Mann vorbehalten ist — die
Familie nach außen zu vertreten — wurde
gegenüber der deutschen Gesellschaft zu-
nehmend von Filiz übernommen.'® Ob es
um offizielle Briefe ging, die Filiz überset-
zen mußte oder einen Arztbesuch, zu dem
Filiz die Eltern begleitete, immer war sie es,
die ‘deutsche Angelegenheiten’ regelte.
Filiz begann, diese Macht für ihre Zwecke
zu nutzen. Indem sie den Eltern durch
scheinbar offizielle Briefe, z.B. die Vor-
schrift, an einem Klassenausflug teilneh-
men zu müssen, nachwies, schuf sie sich
immer mehr Freiräume und umging so die
Verbote der Eltern, ohne diese offiziell zu
rechen oder mit den Eltern in eine offene
Konfrontation zu treten.
Mit ihrem achtzehnten Geburtstag be-
ıntragte Filiz die deutsche Staatsbürger-
schaft. Für sie bedeutete dieser Schritt eine
\ogische Fortführung ihres bisherigen Le-
Jens und die Rechtsgrundlage für eine
Gleichberechtigung mit ihren Mitschülern
ınd Freunden, Für die Eltern, besonders
den Vater, glich dieser Schritt einem Verrat
an der Familie.
„Mein Vater war da richtig sauer, weil er
das halt schon anders sieht als ich, so diese
Staatsbürgerschaft, er verbindet damit halt
richtig, was du dann wirklich bist - das ist
/ür mich halt nur ein Stück Papier, mit dem
ich voll die Vorteile habe. Mit dem türki-
schen Paß konnte ich gar nichts machen
und wurde immer nur schräg angeguckt
und es war für mich eher so - das mach ich
jetzt, weil das für mich Vorteile bringt, weil
ich hier lebe und deshalb auch wählen
möchte - ja gleichberechtigt bin - aber für
meinen Vater war das mehr so, daß ich das
andere jetzt total verstoße und es war halt
schon mehr so, daß ich zwischen den beiden
- also zwischen deutsch sein und türkisch
sein - stand und da super lange dran ge-
knabbert habe, das war richtig kraß - daß
meine Eltern immer versucht haben mich
so auf die Seite der Türken zu ziehen, ja
aber sie haben schon gemerkt, daß das gar
nicht ging, weil das irgendwie, das andere
auch ganz schön stark war.“
Um sich schließlich auch räumlich von
ıhren Eltern zu distanzieren und nicht
mehr jedes Mal eine Erklärung erfinden zu
müssen, wenn sie das Haus verließ, zog Fi-
liz direkt nach dem Abitur in ein Schwe-
sternwohnheim, wo sie vorbereitend auf
ein Medizinstudium ein freiwilliges sozia-
ı)