XII
Lebensskizze.
der „Hausaltertümer‘ beiseite schob, zu dem großen Wäörter-
buche zurückgekehrt, dessen letzten Buchstaben er sich allein
vorbehalten hatte: wie freute er sich auf den allerletzten Artikel
„Zwunsch‘‘ (ein Vogelname) und auf das Erntefest zusammen
mit den Schülern, die seine Mitarbeiter waren, wenn erst alles
„ze wunsche getän‘“ wäre! Und was wollte der fröhliche Pläne-
schmied noch alles in Angriff nehmen, nein abschließen! Vor
dem fünften Bande der „Hausaltertümer‘‘ gedachte er als selb-
ständiges Werk eine „Geschichte des Tanzes‘ einzuschieben,
und eifrig erörterte er den Plan eines, großen „Realwörterbuches
der deutschen Altertumskunde“, als ob er noch über ein paar
Jahrzehnte zu verfügen hätte. Es ist anders gekommen! Unter
den Mitarbeitern des Grimmschen Wörterbuches hat sich seit
langem die Vorstellung gefestigt, daß sie bei einem bedeutungs-
vollen Worte von der Arbeit abberufen werden: Jacob Grimms
Manuskript reichte bis zum Worte „Frucht“, Lexer hat den Druck
bis „Todestag“ geleitet, Lucae sah beim Artikel „Ich‘ ein, daß
ihm die Kraft zur Fortarbeit fehle. Als ich den erkrankten Kol-
legen zuerst aufsuchte, lag neben seinem Lager der Notizzettel
„zahllos‘, und die treue Lebensgefährtin war eben bemüht,
nach Anweisung des Gatten die fehlenden Belege für das früheste
Vorkommen dieser Form aufzuspüren, als der Arzt jeder geistigen
Anstrengung Einhalt gebieten mußte. Man hat Heyne in den
letzten Jahren öfter den Vorwurf gemacht, daß er zu viel von
eigenen Plänen zwischen die Pflichtarbeit eingeschaltet habe:
auch diese Tadler wird es versöhnen, daß er in den Sielen ge-
storben ist. Aber neben den vielen, die tiefbekümmert um das
abermals verwaiste Wörterbuch klagen, werden andere darum
trauern, daß ein fünfter Band der ‚„Hausaltertümer‘“ niemals
erscheinen wird. Es waltet ein eigener Unstern über dem Plan,
den dieser Band ausführen sollte: die „Geschichte der deutschen
Sitte‘, die Jacob Grimm den „Rechtsaltertümern‘‘ und der
„Mythologie‘* an die Seite stellen wollte, mit der Wilhelm Scherer
die „Deutsche Altertumskunde‘‘ Müllenhoffs zu krönen gedachte
— auch Moriz Heyne hat sie nicht schreiben dürfen.
Altertümer und Wörterbuch! — sie sind bei Heyne neben-
einander hergegangen durch fast 40 Jahre, und sie haben sich fort-
dauernd gegenseitig befruchtet. Darin lag Heynes Eigenart und
seine Stärke, und in dieser Vereinigung tat es ihm wirklich keiner
gleich. Wohl hat er niemals so abgerundete und gemütvoll durch-
wärmte Ausschnitte aus der Kulturgeschichte geliefert, wie viel-
fach Rudolf Hildebrand, besonders in dem Buchstaben K, aber
er besaß einen merkwürdig sicheren Blick dafür, in welcher
Sphäre der geistigen oder materiellen Kultur unseres Volkes die
Entstehung eines Wortes oder seine Herübernahme aus der
Fremde erfolgt und durch welche Faktoren seine Bedeutungs-