sicht in die Fremde gewinnen und vermitteln, wird dem Ethnolo-
gen heute aus der eigenen Zunft abgesprochen. Ist er für den
einen nur noch fouristischer Eroberer, der in seiner MuBezeit die
Erfahrung anderer Kulturen in eine Art sportliche Betátigung ver-
wandelt und zu einem profitablen Job macht (Diamond), so ist er
für die anderen eben jenem Touristen gleich, der auf der Flucht
vor sich selbst in die Fremde führt und immer Wieder von sich
selbst gegenillusionär eingeholt wird. Tagebücher, Protokolle
und Berichte von Ethnologen werden für die Demaskierung des
heimgekehrten Wissenschaftlers, der diese Selbstdarstellung in
seiner Analyse der fremden Kulturen ‘unterschlägt’, herangezo-
gen.
Doch da ist noch jene andere Gruppe von Ethnologen, die,
als Ethnopoeten bezeichnet, die Demaskierung umkehren, sich
selbst entblôBen, stigmatisieren, soziales Grenzverhalten signali-
sieren und damit gleichzeitig charismatische Gnadengaben, die
ihnen aus der anderen Welt zugeflossen sind, einer Welt, die jen-
seits liegt, aber nicht mehr unbedingt jenseits des Meeres. Denn
auch für sie sind die wahren Abenteuer zwar nicht mehr im Kopf,
sofern er Produzent des rationalen westlichen Denkens ist, son-
dern im Geist, der ins Transzendentale und damit auf das Eigene
im Fremden vorstößt:
Der surrealistische Schriftsteller Michel Leiris, dessen erste
Motivationen, Ethnologe zu werden, der Wunsch, „das Joch unse-
rer Kultur abzuschütteln“ und die Irritation der eigenen Identität
(Heinrichs) waren, gehört seit seiner Wiederentdeckung als Eth-
nologe in den 70er Jahren zu den Kronzeugen dieser Ethnologie
auf der Suche nach dem Fremden als zutiefst Eigenem. Imaginär
dem Fluß der Zeit zu entgehen, beschreibt Leiris 1930 die Hoff-
nung für seine Afrikareise; neun Jahre spáter in »Mannesalter«
sagt er nicht nur, und hatte wenigstens eine Legende zerstórt: jene
vom Reisen als Möglichkeit, sich selbst zu entfliehen, sondern de-
maskiert, stigmatisiert sich selbst: dem Fluß der Zeit zu entgehen
war der Rat des Arztes, Ursache: regelmäßig fehlgeschlagene Lie-
besversuche, skandalöse Räusche; beinahe blutige Bisse, … eine
nächtliche Sauferei, … vorgetäuschte Absicht, mich zu kastrieren, ...
das Cefünl sowohl geschlechtlicher als auch geistiger Impotenz.
Und in Afrika verliebte er sich in eine Athiopierin, die Physisch
und moralisch [seinem] doppelten Ideal der Lucretia und der Judith