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Volltext: Curare, 38.2015

Metakulturelle Psychoanalyse — Georges Devereux’ Modell der Komplementarität 
dl 
se, So gibt es eine Wahrnehmung, die ich wiederholt 
‘esthalte: Ich sehe und spüre die Durchlässigkeit 
von Räumen, im konkreten Sinn von geöffneten 
Türen und zirkulierenden Menschen, Tieren und 
Gerüchen. Man erzählt mir immer wieder von der 
Durchlässigkeit institutioneller Rahmenbedingun- 
gen und Abläufen: Obwohl offiziell nicht vorgese- 
hen, kommen in der Nacht traditionelle Heiler in 
die Klinik und machen Patienten „Ausflüge“, um 
an Ritualen wie dem Nd&pp teilzunehmen. Wie ich 
das erste Mal durch das Tor in die psychiatrische 
Klinik Fann eintrete, beeindruckt mich deren Aus- 
dehnung. In einem weitläufigen Areal sind wenige 
zrosse Gebäude von einigen kleinen Pavillons mit 
-unden Dächern, umgeben von Bäumen. Da begeg- 
1et man nicht nur Menschen sondern auch Katzen 
und Vögeln und hat bald das Gefühl, man könne 
ungezwungen herumspazieren. Drinnen durchzieht 
der typische Duft aus den kleinen mit parfümierten 
Kohlen gefüllten Schälchen die Räume. In dieser 
Atmosphäre werde ich selbst durchlässiger und las- 
se mich dahin treiben, wo man mich anspricht. Das 
sthnologische Wissen über die Schule von Dakar 
weicht immer mehr einer Bekanntschaft mit ihr. 
Der Empfang in Fann ist sehr zuvorkommend, 
ınd es wird mir im Rahmen der lokalen Bedin- 
zungen alle Freiheit gegeben, mit Patienten, Pfle- 
zepersonal und Ärztinnen und Ärzten zu sprechen. 
Prof. Momar Gueye interessierte sich lebhaft qua 
seinen Funktionen sowohl als Direktor des der 
Universität angegliederten „Institut de Recherches 
at d‘Enseignement de Psychopathologie‘“ (IREP) 
als auch als Vertreter der „Societe de Psychopa- 
ihologie et d‘Hygiene Mentale de Dakar“ für mein 
Forschungsvorhaben. Im Verlauf meiner teilneh- 
menden Beobachtungen bei klinikinternen Weiter- 
bildungen ergreift er jeweils die Gelegenheit, mich 
in Diskussionen und Wissensvermittlung einzube- 
ziehen. Auch Patienten und Patientinnen machen 
intensiv Gebrauch von meiner Präsenz, viele wollen 
bei meinen täglichen Besuchen mit „der Psychoana- 
ıytikerin“ reden. Prof. Gueye bedauert, dass man in 
der Klinik zu wenige Ressourcen für Psychothera- 
Dien hat. 
Zur Vorgeschichte: In den Siebzigerjahren wird 
in der Universitätsklinik Fann die offene Psychi- 
atrie realisiert. Henri Collomb, ein französischer 
Psychiater, der vor allem in Äthiopien gearbeitet 
natte, und seine Mitarbeiter sind die Begründer. 
TCollombs Anliegen zusammen mit jungen afrikani- 
schen Medizinstudenten und Sozialanthropologen, 
unter ihnen Momar Gueye und Babakar Diop, ist 
die Schaffung eines therapeutischen Milieus aus 
der Verbindung von Psychoanalyse und lokalen 
Heilmethoden (Gueye 1984). So will dieses Team 
von Pionieren den zum Teil schweren psychischen 
Störungen begegnen, die unter anderem auch dem 
Kolonialismus, dem Kulturwandel und der Moder- 
ıisierung geschuldet sind. 
Die „Schule von Dakar“ ist nicht auf Annahmen 
aufgebaut, die Phänomene nur aus einer kulturspe- 
zifischen Sicht betrachtet. Babakar Diop, Exper- 
;e der WHO, 1977 noch der einzige Professor für 
Psychiatrie in Senegal, und Nachfolger von Henri 
Collomb, schreibt, dass die Psychiatrie in Fann nach 
Prinzipien arbeitet, „ohne die das Subjekt seinen 
Sinn für Kontingenz und Menschlichkeit“ verlöre. 
Diop war ein brillanter Intellektueller, der 1961 bis 
1966 in Paris studierte, in der Klinik St. Anne gear- 
beitet und eine Analyse bei Lacan angefangen hatte. 
1968 erscheint seine Arbeit über die „Bouffege deli- 
ante“ unter Migranten in Paris. 
Das Modell von Fann hat zwei Ziele, die Thera- 
pie und das Lernen, und basiert auf der Arbeit mit 
Gruppen. Dies versteht man sofort, ist doch in der 
raditionellen afrikanischen Kultur das Leben in 
3zinem familiären Kontext quasi ein Synonym für 
Gesundheit an sich. 
Das Team entwickelt zwei therapeutische Werk- 
zeuge. Das eine nennt sich penc*, die Großgruppe, 
die dem nicht endenden Palaver auf dem Dorf unter 
dem großen Baum entspricht, und das andere ist das 
accompagnement, die Begleitung. Das accompag- 
nement bedeutet, dass jeder, der in die Klinik ein- 
tritt, von einer Person begleitet werden muss. 
Das accompagnement 
Es wird 1968 eingeführt und ab 1972 obligatorisch, 
von da an wird niemand alleine in die Klinik auf- 
zenommen, jeder Patient muss von einer Person 
während des ganzen Klinikaufenthaltes begleitet 
werden. Diese Praxis wird auch von anderen afrika- 
aischen Kliniken von in Fann ausgebildeten Ärzten 
übernommen und noch 1999 wird in Fann nach die- 
sem Modell gearbeitet. 
Das Gründungsteam orientiert sich bei diesem 
Modell an den traditionellen Heilern, die in Sene- 
gal mit den Kranken zusammenleben. Die Heiler 
sind der Meinung, es sei notwendig, nahe an den 
Zurare 38(2015)1+2
	        
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