Metakulturelle Psychoanalyse — Georges Devereux’ Modell der Komplementarität
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se, So gibt es eine Wahrnehmung, die ich wiederholt
‘esthalte: Ich sehe und spüre die Durchlässigkeit
von Räumen, im konkreten Sinn von geöffneten
Türen und zirkulierenden Menschen, Tieren und
Gerüchen. Man erzählt mir immer wieder von der
Durchlässigkeit institutioneller Rahmenbedingun-
gen und Abläufen: Obwohl offiziell nicht vorgese-
hen, kommen in der Nacht traditionelle Heiler in
die Klinik und machen Patienten „Ausflüge“, um
an Ritualen wie dem Nd&pp teilzunehmen. Wie ich
das erste Mal durch das Tor in die psychiatrische
Klinik Fann eintrete, beeindruckt mich deren Aus-
dehnung. In einem weitläufigen Areal sind wenige
zrosse Gebäude von einigen kleinen Pavillons mit
-unden Dächern, umgeben von Bäumen. Da begeg-
1et man nicht nur Menschen sondern auch Katzen
und Vögeln und hat bald das Gefühl, man könne
ungezwungen herumspazieren. Drinnen durchzieht
der typische Duft aus den kleinen mit parfümierten
Kohlen gefüllten Schälchen die Räume. In dieser
Atmosphäre werde ich selbst durchlässiger und las-
se mich dahin treiben, wo man mich anspricht. Das
sthnologische Wissen über die Schule von Dakar
weicht immer mehr einer Bekanntschaft mit ihr.
Der Empfang in Fann ist sehr zuvorkommend,
ınd es wird mir im Rahmen der lokalen Bedin-
zungen alle Freiheit gegeben, mit Patienten, Pfle-
zepersonal und Ärztinnen und Ärzten zu sprechen.
Prof. Momar Gueye interessierte sich lebhaft qua
seinen Funktionen sowohl als Direktor des der
Universität angegliederten „Institut de Recherches
at d‘Enseignement de Psychopathologie‘“ (IREP)
als auch als Vertreter der „Societe de Psychopa-
ihologie et d‘Hygiene Mentale de Dakar“ für mein
Forschungsvorhaben. Im Verlauf meiner teilneh-
menden Beobachtungen bei klinikinternen Weiter-
bildungen ergreift er jeweils die Gelegenheit, mich
in Diskussionen und Wissensvermittlung einzube-
ziehen. Auch Patienten und Patientinnen machen
intensiv Gebrauch von meiner Präsenz, viele wollen
bei meinen täglichen Besuchen mit „der Psychoana-
ıytikerin“ reden. Prof. Gueye bedauert, dass man in
der Klinik zu wenige Ressourcen für Psychothera-
Dien hat.
Zur Vorgeschichte: In den Siebzigerjahren wird
in der Universitätsklinik Fann die offene Psychi-
atrie realisiert. Henri Collomb, ein französischer
Psychiater, der vor allem in Äthiopien gearbeitet
natte, und seine Mitarbeiter sind die Begründer.
TCollombs Anliegen zusammen mit jungen afrikani-
schen Medizinstudenten und Sozialanthropologen,
unter ihnen Momar Gueye und Babakar Diop, ist
die Schaffung eines therapeutischen Milieus aus
der Verbindung von Psychoanalyse und lokalen
Heilmethoden (Gueye 1984). So will dieses Team
von Pionieren den zum Teil schweren psychischen
Störungen begegnen, die unter anderem auch dem
Kolonialismus, dem Kulturwandel und der Moder-
ıisierung geschuldet sind.
Die „Schule von Dakar“ ist nicht auf Annahmen
aufgebaut, die Phänomene nur aus einer kulturspe-
zifischen Sicht betrachtet. Babakar Diop, Exper-
;e der WHO, 1977 noch der einzige Professor für
Psychiatrie in Senegal, und Nachfolger von Henri
Collomb, schreibt, dass die Psychiatrie in Fann nach
Prinzipien arbeitet, „ohne die das Subjekt seinen
Sinn für Kontingenz und Menschlichkeit“ verlöre.
Diop war ein brillanter Intellektueller, der 1961 bis
1966 in Paris studierte, in der Klinik St. Anne gear-
beitet und eine Analyse bei Lacan angefangen hatte.
1968 erscheint seine Arbeit über die „Bouffege deli-
ante“ unter Migranten in Paris.
Das Modell von Fann hat zwei Ziele, die Thera-
pie und das Lernen, und basiert auf der Arbeit mit
Gruppen. Dies versteht man sofort, ist doch in der
raditionellen afrikanischen Kultur das Leben in
3zinem familiären Kontext quasi ein Synonym für
Gesundheit an sich.
Das Team entwickelt zwei therapeutische Werk-
zeuge. Das eine nennt sich penc*, die Großgruppe,
die dem nicht endenden Palaver auf dem Dorf unter
dem großen Baum entspricht, und das andere ist das
accompagnement, die Begleitung. Das accompag-
nement bedeutet, dass jeder, der in die Klinik ein-
tritt, von einer Person begleitet werden muss.
Das accompagnement
Es wird 1968 eingeführt und ab 1972 obligatorisch,
von da an wird niemand alleine in die Klinik auf-
zenommen, jeder Patient muss von einer Person
während des ganzen Klinikaufenthaltes begleitet
werden. Diese Praxis wird auch von anderen afrika-
aischen Kliniken von in Fann ausgebildeten Ärzten
übernommen und noch 1999 wird in Fann nach die-
sem Modell gearbeitet.
Das Gründungsteam orientiert sich bei diesem
Modell an den traditionellen Heilern, die in Sene-
gal mit den Kranken zusammenleben. Die Heiler
sind der Meinung, es sei notwendig, nahe an den
Zurare 38(2015)1+2