Metakulturelle Psychoanalyse — Georges Devereux’ Modell der Komplementarität
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Damit kommt eine Unbestimmtheit auf. In der ex-
jerimentellen Physik geht es um Beobachtung und
Messung. In der klassischen Physik ging man davon
zus, dass das Resultat einer Messung bzw. Beobach-
tung etwas über das System aussagt, wie es vor der
Beobachtung war. In der Quantenphysik hingegen
ist der Zustand des Systems vor und nach der Be-
obachtung nicht gleich. Und diese Erkenntnis der
modernen Physik verbindet Devereux mit Freuds
Entdeckung der Übertragungsneurose.
Gegenübertragung
Devereux’ intellektuelle Begegnung mit Niels Bohr
und die erste intensive Feldforschung in Indochina
bei den Sedang stellen das „Moment der Wahrheit“
n der Grundlegung seiner komplementären Metho-
de dar (CEREA 2014: 93 zitiert aus dem 1982 geführ-
en Gespräch mit U. Bokelmann und E. Burgos).
1934 beginnt Devereux bei den Sedang zu forschen.
Sein „Gebiet“, das letzte von den Franzosen pazi-
Azierte, umfasst siebzig Dörfer. Die Komplexität
im Kontakt mit den kriegerischen Sedang und das
psychische Leid der Sedang hinter ihren, für sein
Empfinden, grausamen kulturellen Bräuchen, for-
dert seine Selbstbeobachtung heraus, und er wird
nie mehr aufhören, die Untersuchung der Subjek-
ivität und Affektivität des Forschers, seine Gegen-
übertragung, für das zentrale Erkenntnisinstrument
zu halten. Wie ALESSANDRA CEREA (ebd. : 102) an-
merkt, ist er einer der ersten Psychoanalytiker, der
die Gegenübertragung für wichtiger als die Über-
ıragung hält, und es ist erstaunlich, dass in den seit
PAuLA Hemmanns On countertransference (1950)
dazu immer zahlreicher erscheinenden psychoana-
iytischen Arbeiten die Erwähnung seines wichtigen
Beitrages durchgehend fehlt. Wenn es die Aufgabe
der Psychoanalyse ist, die Übertragungsneurose zu
verstehen, so heisst dies nach Devereux, der hier
dem konstruktivistischen Freud folgt, dass sie das
Phänomen „Übertragung“ kreiert, das sie danach
erklärt. „Der Analytiker hat von dem, worauf es
ankommt, nichts erlebt und nichts verdrängt; seine
Aufgabe kann es nicht sein, etwas zu erinnern. Was
ist also seine Aufgabe?“ (FREUD 1975: 396). Das ge-
zamte Werk From Anxiety to Method, dessen Wur-
zeln im Hochland des ehemaligen Indochina liegen,
wo die schwierige Begegnung mit den Sedang seine
Reflexion zur Gegenübertragung in Gang setzt, ist
in Plädoyer für eine konstruktivistische Psycho-
analyse.
Kulturrelativismus und Einheit der Menschen
In kritischer Absetzung von Geza Roheim, dem er
die Aussage „alles ist psychische Transposition,
nichts wird im Namen der Kultur gesagt“ (VALANTIN
2014: 27) ankreidet, und vom Kreis der Sozialan-
‘“hropologen um Alfred Kroeber in Berkeley, wird
die Psychoanalyse zu der Disziplin, mit der er seine
neue Epistemologie entwickelt. Er bekämpft den
Zulturrelativismus mit seiner Auffassung der Psy-
choanalyse, die ihm als Modell für die Universalität
der psychischen Grundfunktionen gilt (Bazzı 2014).
In Kombination mit der Komplementärmethode
entwickelt er seine Epistemologie und gerät, ver-
zlichen mit dem Mainstream seiner Zeit, ins theo-
retische Offside, eine Position, die in schmerzlicher
Weise zu seiner unabhängigen Art des Denkens da-
zugehört: zum einen als der nicht geliebte unter den
eiden Brüdern, dem Antisemitismus ausgesetztem,
ınd im Weiteren als Fremden bei den Sedang, als
Sozialanthropologe, also Nicht-Mediziner, in der
Menninger Klinik etc. (vgl. BOKELMANN 1986; Baz-
zı 2015a). Auch Kroeber (Bazzı 2015b), der ihn
zunächst unterstützt, doch dann das universitäre
Terrain an seine kulturalistischen Kolleginnen wie
Ruth Benedict und Cora DuBois verteilt, berei-
‚et ihm dadurch eine neue Enttäuschung. Es muss
ihm so vorkommen, als ob das Denken eines Ma-
linowski gewinnt, der sich gegen die Annahme der
Universalität des Ödipus stellt. Das „wir‘“-Gefühl
zegenüber allen Menschen setzt „ein Gefühl für
die vollständige, uneingeschränkte und nichtprivi-
legierte Teilnahme am menschlichen Status“ vor-
aus, „ein Gefühl für die grundsätzliche psychische
Einheitlichkeit aller Menschen“ (DEvEREUX 1973:
265%).
Auch dreißig Jahre nach seinem Tod hat sich
leider nicht viel daran geändert, dass Devereux wie
schon zu seinen Lebzeiten von den meisten zeitge-
nössischen Psychoanalytikern ebenso wie Sozial-
anthropologen ignoriert, oder für unlesbar gehalten
wird (VALANTIN 1993: 956). Sobald ein Interesse an
seinem Werk da ist, merkt Valantin an, scheint es
sich wieder von ihm abzuwenden und in eine trans-
xulturelle Psychiatrie oder eine Psychoanalyse, die
Phänomene nur aus einer kulturspezifischen Sicht
arklärt zu münden. „Wenn er sich so heftig gegen
Zurare 38(2015)1+2