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Volltext: Curare, 38.2015

Metakulturelle Psychoanalyse — Georges Devereux’ Modell der Komplementarität 
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Damit kommt eine Unbestimmtheit auf. In der ex- 
jerimentellen Physik geht es um Beobachtung und 
Messung. In der klassischen Physik ging man davon 
zus, dass das Resultat einer Messung bzw. Beobach- 
tung etwas über das System aussagt, wie es vor der 
Beobachtung war. In der Quantenphysik hingegen 
ist der Zustand des Systems vor und nach der Be- 
obachtung nicht gleich. Und diese Erkenntnis der 
modernen Physik verbindet Devereux mit Freuds 
Entdeckung der Übertragungsneurose. 
Gegenübertragung 
Devereux’ intellektuelle Begegnung mit Niels Bohr 
und die erste intensive Feldforschung in Indochina 
bei den Sedang stellen das „Moment der Wahrheit“ 
n der Grundlegung seiner komplementären Metho- 
de dar (CEREA 2014: 93 zitiert aus dem 1982 geführ- 
en Gespräch mit U. Bokelmann und E. Burgos). 
1934 beginnt Devereux bei den Sedang zu forschen. 
Sein „Gebiet“, das letzte von den Franzosen pazi- 
Azierte, umfasst siebzig Dörfer. Die Komplexität 
im Kontakt mit den kriegerischen Sedang und das 
psychische Leid der Sedang hinter ihren, für sein 
Empfinden, grausamen kulturellen Bräuchen, for- 
dert seine Selbstbeobachtung heraus, und er wird 
nie mehr aufhören, die Untersuchung der Subjek- 
ivität und Affektivität des Forschers, seine Gegen- 
übertragung, für das zentrale Erkenntnisinstrument 
zu halten. Wie ALESSANDRA CEREA (ebd. : 102) an- 
merkt, ist er einer der ersten Psychoanalytiker, der 
die Gegenübertragung für wichtiger als die Über- 
ıragung hält, und es ist erstaunlich, dass in den seit 
PAuLA Hemmanns On countertransference (1950) 
dazu immer zahlreicher erscheinenden psychoana- 
iytischen Arbeiten die Erwähnung seines wichtigen 
Beitrages durchgehend fehlt. Wenn es die Aufgabe 
der Psychoanalyse ist, die Übertragungsneurose zu 
verstehen, so heisst dies nach Devereux, der hier 
dem konstruktivistischen Freud folgt, dass sie das 
Phänomen „Übertragung“ kreiert, das sie danach 
erklärt. „Der Analytiker hat von dem, worauf es 
ankommt, nichts erlebt und nichts verdrängt; seine 
Aufgabe kann es nicht sein, etwas zu erinnern. Was 
ist also seine Aufgabe?“ (FREUD 1975: 396). Das ge- 
zamte Werk From Anxiety to Method, dessen Wur- 
zeln im Hochland des ehemaligen Indochina liegen, 
wo die schwierige Begegnung mit den Sedang seine 
Reflexion zur Gegenübertragung in Gang setzt, ist 
in Plädoyer für eine konstruktivistische Psycho- 
analyse. 
Kulturrelativismus und Einheit der Menschen 
In kritischer Absetzung von Geza Roheim, dem er 
die Aussage „alles ist psychische Transposition, 
nichts wird im Namen der Kultur gesagt“ (VALANTIN 
2014: 27) ankreidet, und vom Kreis der Sozialan- 
‘“hropologen um Alfred Kroeber in Berkeley, wird 
die Psychoanalyse zu der Disziplin, mit der er seine 
neue Epistemologie entwickelt. Er bekämpft den 
Zulturrelativismus mit seiner Auffassung der Psy- 
choanalyse, die ihm als Modell für die Universalität 
der psychischen Grundfunktionen gilt (Bazzı 2014). 
In Kombination mit der Komplementärmethode 
entwickelt er seine Epistemologie und gerät, ver- 
zlichen mit dem Mainstream seiner Zeit, ins theo- 
retische Offside, eine Position, die in schmerzlicher 
Weise zu seiner unabhängigen Art des Denkens da- 
zugehört: zum einen als der nicht geliebte unter den 
eiden Brüdern, dem Antisemitismus ausgesetztem, 
ınd im Weiteren als Fremden bei den Sedang, als 
Sozialanthropologe, also Nicht-Mediziner, in der 
Menninger Klinik etc. (vgl. BOKELMANN 1986; Baz- 
zı 2015a). Auch Kroeber (Bazzı 2015b), der ihn 
zunächst unterstützt, doch dann das universitäre 
Terrain an seine kulturalistischen Kolleginnen wie 
Ruth Benedict und Cora DuBois verteilt, berei- 
‚et ihm dadurch eine neue Enttäuschung. Es muss 
ihm so vorkommen, als ob das Denken eines Ma- 
linowski gewinnt, der sich gegen die Annahme der 
Universalität des Ödipus stellt. Das „wir‘“-Gefühl 
zegenüber allen Menschen setzt „ein Gefühl für 
die vollständige, uneingeschränkte und nichtprivi- 
legierte Teilnahme am menschlichen Status“ vor- 
aus, „ein Gefühl für die grundsätzliche psychische 
Einheitlichkeit aller Menschen“ (DEvEREUX 1973: 
265%). 
Auch dreißig Jahre nach seinem Tod hat sich 
leider nicht viel daran geändert, dass Devereux wie 
schon zu seinen Lebzeiten von den meisten zeitge- 
nössischen Psychoanalytikern ebenso wie Sozial- 
anthropologen ignoriert, oder für unlesbar gehalten 
wird (VALANTIN 1993: 956). Sobald ein Interesse an 
seinem Werk da ist, merkt Valantin an, scheint es 
sich wieder von ihm abzuwenden und in eine trans- 
xulturelle Psychiatrie oder eine Psychoanalyse, die 
Phänomene nur aus einer kulturspezifischen Sicht 
arklärt zu münden. „Wenn er sich so heftig gegen 
Zurare 38(2015)1+2
	        
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