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aur ausdrücken, dass er im Rahmen von Begriffs-
schemata und nicht von mechanischen Modellen
dachte“ (DEvEREUx 1978: 251).
Unter „metakulturell‘“ versteht Devereux das,
was jenseits von jeder besonderen Kultur liegt: Die
Kultur per se, die Kultur als universelles menschli-
ches Phänomen und Erfahrung. In der metakultu-
rellen Psychoanalyse wird die Beziehung zwischen
Kultur an sich und jeglicher Psychopathologie un-
tersucht und die Analytikerin macht sich das Ver-
ständnis der Kultur als solcher zunutze. Eine Psy-
choanalyse, die mit der Kenntnis der spezifischen
Kultur des Analysanden arbeitet, nennt er “cross-
zultural” wie beispielsweise seine Psychoanalyse
mit Jimmy Picard, die er in Reality and Dream be-
schreibt (1969: xxv—xxi).
Kein Subjektivierungsprozess ist ohne eine dia-
ıektische Anverwandlung von Kultur, ohne Enkul-
turation denkbar. Und gleichzeitig ist eine Anpas-
sung an die Kultur per definitionem ein Scheitern
der Subjektwerdung, denn, wie Devereux sagt, er
1abe keine Kultur entdeckt, die „Normalität“ erlau-
en würde, Ich meine, diese kann es niemals geben,
ınd das ist die einzige Feststellung, derentwegen
wir diese Utopie benötigen. Also müssen wir uns
mit Annäherungen begnügen. Doch was könnte
„Normalität“ heissen? Devereux sagt wiederholt,
lass „die richtige Gesellschaft die ist, die sich vor
allem das zunutze zu machen weiss, worin ein In-
dividuum von seinesgleichen abweicht“ (1986: 13,
kursiv DB, siehe auch Devereux 1979, hier zitiert
nach 2008: 265). „Ich glaube, es ist nicht das ge-
ingste meiner Verdienste, niemals das Individuum
aus den Augen verloren zu haben. [...] indem ich
das Individuelle vom Soziokulturellen trenne, den
einzelnen vom Kollektiv“ (Devereux in BOKELMANN
1987: 23). Wie Devereux methodisch vorgeht, wenn
er Subjekt und Kultur voneinander trennt, soll im
Folgenden in sehr zusammengefasster Weise ge-
zeigt werden. Psyche und Kultur sind unterschied-
ıliche Konzepte, und es ist nicht möglich, das eine
ohne das andere zu erforschen, Kultur und Psyche
erscheinen gleichzeitig.
Komplementarität
Zur Zeit seines kurzen Studiums der Mathematik
and Physik im Laboratorium von Marie Curie und
Jean Perrin „gab es zwei Theorien über das Licht,
die Wellen- und die Partikeltheorie. Das war für
DANIELLE Bazzı
mich, der ich doch eine sichere Basis suchte, etwas
worauf ich mich verlassen konnte, sehr verwirrend.
Ich wollte wissen, welche der beiden Theorien über
das Licht die richtige sei. Dass beide, aber unabhän-
gig von der jeweils verschiedenen Versuchsanord-
nung, wahr sind, das war damals noch unbekannt.
Man wusste damals noch nicht, dass das kein Man-
zel der Theorie oder der Versuchsanordnung war,
sondern zur Natur der Sache gehörte. — Heisenberg
gelangte dann 1927 zu einer gültigen Formulierung
des Problems. Dieses Komplementaritätsprinzip
nach Bohr und Heisenberg spielte dann eine sehr
große Rolle in meinem Denken. Und Pascual Jor-
Jan hatte begriffen, dass das auch auf die Biologie
und sogar auf die Psychologie anwendbar sei. Aber
die Komplementarität von Psychologie und Sozio-
„ogie, das war meine Idee“ (BOKELMANN 1987: 24).
Jlrike Bokelmann bezeichnet die Komplementari-
tätsmethode als das Kernstück des Werks von De-
vereux.
Sein Neffe Michael Ghil meint, das kurze Phy-
sikstudium, jedoch auf einem hohen Niveau, habe
ıhm zu den innovativen Ideen zur Ethnopsycho-
analyse verholfen und ihm die Grundwerkzeuge zu
sinem modernen Verständnis des Individuums in
der Gesellschaft vermittelt (Gm 2007). Zur Quan-
;enphysik hat Devereux einen doppelten Bezug, ei-
aerseits durch sein Studium, andererseits ist Heisen-
berg der Doktorvater seines gleichaltrigen, ihm in
beinahe zwillingshafter Art nahestehenden Cousins
idward Teller.
Zwei Prinzipien, die er der Quantenphysik ent-
aimmt, sind für sein Denken wichtig: Der Effekt,
den der Beobachter auf das Beobachtete hat und
die Komplementarität. Das erste Prinzip behandelt
ar in Angst und Methode in den Verhaltenswissen:
schaften. Die bekannteste Manifestation der Kom-
olementarität ist der Welle-Teilchen-Dualismus: Ein
quantenmechanisches Objekt (Elektronen oder Pho-
onen) kann einmal als Teilchen, einmal als Welle in
Erscheinung treten. Für welche dieser komplemen-
ären Erscheinungsformen es sich entscheidet, ist
allein von den experimentellen Bedingungen abhän-
gig. Beide Aspekte schließen sich gegenseitig aus,
aber erst beide zusammen ergeben eine vollständige
Beschreibung eines Objekts. Ein quantenmechani-
sches Objekt hat nicht gleichzeitig einen genauen
Ort und einen genauen Impuls. Der Genauigkeit,
mit der man den Ort und den Impuls eines Teilchens
zleichzeitig messen kann, sind Grenzen gesetzt.
VWB — Verlag für Wissenschaft und Bildung