Wolfgang Brückner und Hans Dünninger
Nicht unerwähnt bleiben darf eine weitere Begriffsveränderung und Wortübertra-
gung späterer Säkularisierungen. Heute heißen in Tirol bei den Faschingsumzügen,
deren gegenwärtige hypertrophe Showausformungen zum Teil erst im späten
19. Jahrhundert entstanden, jene Festwagen »Labera«, auf denen eine zeitkritische
oder satirische »Schaubühne auf Rädern« stattfindet. Der Sache nach ist dies ver-
wandt mit dem sogenannten »Vigatter«, was ganz allgemein ein Spottgedicht auf
Fastnacht bezeichnet??. In Telfs wird dies spielmäßig im Umzug vorgetragen und
2eute darum als »übergroße Labera« interpretiert??. ANTOoN Dörrer und das Wörter-
buch der Tiroler Mundarten sehen einen direkten Zusammenhang mit dem kirchli-
chen Labarum?*. Tertium comparationis ist die Moritatentafel. Im bayerischen Wör-
:;erbuch hingegen zitiert SCHMELLER schon eine literarische Quelle des 17. Jahrhun-
derts: »Labrer sagt Moscherosch im Philander von Sittewald [1640/43] p. 562, seyen
in Baiern Spottlieder«?, Damit wird m. A.n. die Etymologie wieder fragwürdig, je-
doch nicht die Sachübertragung im Zusammenhang der kontinuierlichen Spieltradi-
ıjonen. Dörrers Argumentation von 1949 scheint mir heute noch gültig:
‚Dieses Wortzeichen wurde und wird auf einer Leinwand und hohen Stange vor-
angetragen. Es ersetzt den alten Pritschenmeister und Bänkelsänger. Solche Labara
wurden seit dem beginnenden 17. Jahrhundert auch in den geistlichen Spielen und
Figuralprozessionen Tirols verwendet und selbst für komische Aufführungen über-
nommen. An manchem Orte trug man im 17. und 18. Jahrhundert solche Labara, sol-
che Leinwandrollen mit Abbildungen der Muttergottes, eines Heiligen oder eines
frommen Ereignisses mit entsprechender Worterklärung auch bei kleineren kirchli-
chen Umzügen mit. Diesen Brauch nahm man aber auch bei Verulkungen und Ver-
spottungen bestimmter Ortsereignisse auf. Es liegt gar kein Grund vor, diesen Zu-
sammenhang zu übergehen und sich auf anklingende albanische Wörter zu stützen.
Wie das Volk das Vigatter allmählich als eine Vergatterung hinnahm, die sie in den
‚guten, alten Zeiten« des k. u. k. Militärs eben tagtäglich mitgemacht hatte, faßte es
die Labara nur mehr als Spottgedicht und damit als eine symbolisch zu nehmende
Kopfwaschung (ohne Lavoir!) auf. An solchen Volksetymologien wird deutlich, wie
der Sinn und Gehalt der einzelnen Braucherscheinungen sich wandelte und neuzeitli-
chen, nüchternen Lebensverhältnissen anpaßte. Der ursprüngliche Glaube tritt in den
Hintergrund, die Freude am Hergebrachten und Außerordentlichen, dem Heimatort
ganz Eigenen, und der Genuß am Malerischen und Drastischen gewinnt die Ober-
hand, so daß manche Eigentümlichkeit des Brauches nicht mehr vom ursprünglichen
and starken Sinn und dessen Grundvorstellungen erfüllt ist«2® N
W, Brückner
22 DÖRRER, ANTON: Tiroler Fasnacht innerhalb der alpenländischen Winter- und Vorfrüh-
lingsbräuche (= Österr. Volkskultur 5). Wien 1949, S. 266-269.
23 PFAUNDLER, WoLFGANnG: Fasnacht in Tirol. Telfer Schleicherlaufen. Wörgl 1981, S. 326.
14 SCHATZ, Joser: Wörterbuch der Tiroler Mundarten. Innsbruck 1955, S. 366.
25 SCHMELLER, JOHANN ANDREAS: Bayerisches Wörterbuch. München 1872. I, Sp. 1403.
2% DÖRRER (wie Anm. 22). 5. 267f
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