Buchbesprechungen 297
dere der Klane zu beschreiben, sondern er geht darüber hinaus der Frage nach, wie die derzeit
beobachtbaren, ethnisch übergreifenden Klanstrukturen entstanden sind. Er kommt zu dem
Ergebnis, daà sowohl genetisch-divergierende als auch affiliatorisch-konvergente Faktoren da-
bei eine Rolle spielten. Die historischen Vorgänge waren somit weit komplexer, als es die gángi-
gen Modelle der Ethnogenese suggerieren. Methodologisch stützt sich Schlee zum einen auf die
Auswertung historischer Quellen in geschriebener und mündlich tradierter Form, zum anderen
auf den Vergleich kultureller Merkmale. Das orale Quellenmaterial, das er selbst erhoben hat, ist
dem Werk im Originaltext und in der Ãbersetzung beigegeben, so dafs der interessierte Leser die
historischen Schlüsse daraus für sich selbst nachvollziehen kann.
Im zweiten Kapitel beschreibt Schlee die Sozialstrukturen der untersuchten Ethnien nach
den gruppenspezifischen Merkmalen, wie sie von den Insidern selbst oder von äuÃeren Betrach-
tern gesehen werden. Tabellen und Diagramme veranschaulichen das komplexe Bild.
Der historische Rahmen wird vergleichsweise kurz im dritten Kapitel dargestellt. Das her-
ausragende Ereignis ist der Vorstoà der Galla aus dem südäthiopischen Raum nach Süden im 16.
Jahrhundert. Wie ein Keil trennten sie die kulturell homogenen Proto-Rendille-Somali (kurz:
PRS) und überlagerten sie zum Teil, wobei ehemals vorherrschende Kulturmerkmale verschüt-
tet oder zerstórt wurden.
Im vierten Kapitel unternimmt es Schlee, unter zwei zusammenfassenden Aspekten, die
Merkmale der PRS-Kultur zu rekonstruieren. Der erste Aspekt, von ihm ,Kamelkomplex' ge-
nannt, stellt eine lose Zusammenfassung von Kulturmerkmalen rund um die Kamelhaltung dar,
die nach weitgehend objektiven Kriterien transkulturell bzw. interethnisch verglichen werden.
Beim zweiten Aspekt handelt es sich unter dem thematischen Oberbegriff âlanger Marschâ um
historisch überliefertes Vergleichsmaterial, das vor der vergleichenden Analyse im Gegensatz
zum ersten Komplex noch der Aufbereitung und Interpretation bedarf und darum notwendi-
gerweise auch subjektive Elemente enthält. Aus der mehr oder weniger aufwendigen Analyse
folgt, daà sich in dem untersuchten Raum eine PRS-Bevölkerung in drei Proto-Ethnien, die
Garre, Gabbra und Proto-Rendille-Sakuye, aufspaltete. Letztere unterteilten sich in Rendille
und Sakuye, bevor die erwähnte Expansion der Boran zu einer neuen ethnischen Ordnung des
gesamten nordost-kenianischen Raums führte.
Schlee betont zu Beginn des 5. Kapitels, daà das genealogisch-unilineare Zwischenergebnis
nur einen generellen Trend der ethnogenetischen Entwicklung wiedergibt. Um der historischen
Realität näherzukommen, müsse dieses Bild durch die Aufdeckung der konvergenten, teilweise
sogar rückläufigen Ströme der historischen Entwicklung ergänzt werden. Dieser Aufgabe un-
terzieht er sich, ebenfalls auf der Grundlage einer historisch-vergleichenden Methodik, im 5.
Kapitel. Allerdings verläÃt Schlee dabei die strenge Systematik, die er im 4. Kapitel befolgte, und
untersucht, nur nach dem Gesichtspunkt ihrer historischen Aussagekraft geordnet, objektive
und subjektive Kulturmerkmale in bunter Reihenfolge durcheinander. Abgesehen von einem
einleitenden Abschnitt, handelt es sich eigentlich um die Zusammenfassung von fünf selbständi-
gen Essays über einzelne Klangruppierungen: Odoola, Harrau-Usmalo, Gaar-Fur, Gaalorra-
Gaaldeilan-Rengumo und Matarba.
Das Ergebnis der gesamten Untersuchung wird im 6. Kapitel zusammengefaÃt und teilweise
auf eine höhere, allgemeingültige Abstraktionsebene gehoben: (1) Wir alle haben mehrere Iden-
titäten, aus denen wir je nach den Umständen die eine oder andere zur Richtschnur unseres So-
zialverhaltens machen. (2) In Nordkenia und Südäthiopien ist die ethnische Zugehörigkeit, be-
zogen auf das Individuum, vergleichsweise instabil, während sich die Klanzugehörigkeit als ein
mehr konservatives Element der sozialen Ordnung erweist. (3) Das heutige System von ethni-