Jakob Mehringer/Jürgen Dieckert: Körper- und Wesensauffassung der Canela 245
len“ und „In-sich-Hineinhören“ der Canela-Indianer erfahren diese ihre Umwelt. Be-
fragen sie dabei die Widerspiegelung der Außenwelt in ihrer Innenwelt des Denkens
und Verstehens?
Das Ergebnis dieses konkret körperlichen reflexiven Denkens bezeichnet die Men-
schen als visuell wahrgenommenes Phänomen, als „das Haus der Person“, Ihkreka,
mit einem „unsichtbaren Kern“, Cax«wyn, und beschreibt ihn damit aus der Auflen-
und Innensicht.
Diese von den Canela-Indianern formulierte Zweiheit kónnte dazu verleiten, vor-
schnell in das Leib-Seele- oder Kórper-Geist-Schema zu verfallen, wie es in unserer
europäischen Auffassung üblich ist. Ein solches dualistisches Schema ist aber keines-
wegs bei den Canela zu interpretieren. Die Gefahr der Fehlübersetzung in das dualisti-
sche Konzept mit den Begriffen Leib/Seele... wird in der völkerkundlichen Literatur
verschiedentlich, so z. B. von Münzel (1971, 86), angesprochen. So kommt es vor, daß
ein mit dem Begriff Seele übersetztes Phänomen mehrere Aspekte bzw. Erscheinungs-
formen umfaßt (vgl. Baer 1984, 12, 129, 231; Mehringer 1986, 196).
Bei den Canela-Indianern wird der „unsichtbare Kern“ als ein dem „Haus der Per-
son“ deckungsgleiches Phänomen, gleichsam als ein unsichtbares Abbild beschrieben.
Darüber hinaus erreicht das menschliche Wesen, nach Auffassung dieser Ethnie, sei-
nen Idealzustand in der Aufhebung der Zweigeteiltheit — in der totalen Einheit von /5-
Abb. 4, Der Ketuajé-Festzyklus fördert den „Frohsinn“, die „Einheit des Wesens“ der Initianden.