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Werner Müller
Anthropos 59. 1964
Mühlmanns Bücher zu beachten. In ihnen macht sich eine neue Sicht bemerk
bar, energischer als früher: die Ethnosoziologie, oder wie man diesen Aspekt
benennen will.
Doch es wiegen nicht solche soziologischen Gesichtspunkte allein, sondern
Mühlmanns Auslassungen werfen grundsätzliche Fragen auf, die geklärt wer
den müssen, soll die Ethnologie am Leben bleiben. Mühlmann selbst hat diese
Probleme deutlich aber unangenehm akzentuiert : in dem oben genannten Vor
trag belegte er jene Forscher, die das Unglück haben, andere Ansichten zu ver
treten, mit Ausdrücken wie romantische Idealisierer, Inspirierte, neoromanti
sche Übertreiber, Konstrukteure, Panegyriker, idealisierende Überzeichner,
Überstilisierer, Mystiiizierer, Selbstbetrüger, Unhistoriker 6 .
Man wird der MÜHLMANNschen Skala eine gewisse volkstümliche Dik
tion nicht absprechen wollen, doch uns liegt daran zu erfahren, welche Sach
bezüge eigentlich diese ungewöhnliche Ausdrucks weise hervorgerufen haben.
Wir beginnen dabei mit dem Werk über die Umsturzbewegungen.
1. Der kategoriale Irrtum
Nimmt man das Chiliasmusbuch zur Hand, so sieht man sich zwei Teilen
gegenüber, einem regionalen mit Einzelbeschreibungen sogenannter nativisti-
scher Bewegungen, die zumeist von Mitarbeitern Mühlmanns stammen, und
sodann einem vergleichenden Abschnitt, in dem Mühlmann selbst einen regel
haften Ablauf dieser Prozesse herauszuschälen sucht. Unter Nativismen ver
steht er die Abwehrreaktionen gegen übermächtig einwirkende Fremdkulturen
und die Besinnung auf den eigenen Wert 6 7 .
Der vergleichende Teil fängt die Form einer solchen Bewegung ein und
zerlegt sie bis in die kleinsten Details ; die charismatischen Typen der Propheten
und Inauguratoren, Psychopathen, Abartige, Neurotiker, Epileptiker, Schi
zophrene, Schwachsinnige, Narren aller Grade ; die epidemieartige Diffusion
mit ihren Abspaltungen, Uminterpretationen, Motivschwunden ; die Institu
tionalisierung des ursprünglich spontanen Aktes ; die chiliastische Thematik
mit ihren messianischen Wehen, ihrer Idealgesellschaft und dem einen Glau
ben ; die mythischen Strukturen mit ihren Bildprojektionen vom Paradies,
goldenen Zeitalter, Schlaraffenland, Heilbringer, der verkehrten Welt; schließ
lich die „Sozialisierungen“ mit den praktischen Folgen wie Anarchismus,
Totalitarismus, Perfektionismus, Anomismus, Dogmatismus, Sozialhedonismus.
Die Analysen belegen für Mühlmann eindeutig die Ebenselbigkeit eines
immer wiederholten Prozesses; stets läuft mit maschinenhafter Genauigkeit
6 A. a. O. 173, 174, 175, 176, 180. Nebenbei; unter Gelehrten läßt sich das Adjek
tiv „romantisch“ nicht gut als Schimpfwort verwenden. Zu den Romantikern gehörte
schließlich auch ein Jakob Grimm, und mit ihm auf eine Stufe gestellt zu werden, kann
sich jeder zur Ehre anrechnen, auch heute noch.
7 Chiliasmus und Nativismus 11 f. Bei Mühlmann heißt es etwas wuchtiger :
Kollektiver Aktionsablauf, der von dem Drang getragen ist, ein durch überlegene Fremd
kultur erschüttertes Gruppen-Selbstgefühl wiederherzustellen durch massives Demonstrie
ren eines „eigenen Beitrages“.