92
BESPRECHUNGEN UND BÜCHEREINGÄNGE
lustempfindlichsten Körperteils ist!“ (S. ioi bis
102, die begeisterten Ausrufungszeichen stammen von
Sydow.)
Die Argumentationen des Kapitels über die zeichne
rischen Künste sind eigentlich noch dürftiger und zu
gleich willkürlicher als alle vorhergehenden: die von S.
hervorgehobenen Eigenarten der Gravierungen, Zeich
nungen und Malereien der Naturvölker gegenüber un
seren, nämlich: Fehlen der Perspektive, Fehlen einer
rahmenmäßigen Umgrenzung, Beschränkung auf die
Darstellung einer einzelnen Figur (in den weitaus meisten
Fällen), sind zweifellos richtig gesehen. Aber wenn S.
daraus ein „Gesetz der Flächeneinheit“ herleitet („Die
Figuration bildet selbst das Bildfeld, umschreibt es und
füllt es aus“), ein besonderes „Streben nach einer
Geschlossenheit der Fläche“ (S. 116) feststellt, und
dann fragt: „Wie erklärt sich dieser langwährende
Despotismus (!) der Grundsätze der Formgebung?“
(S. 123), so kann der Leser das nun Folgende nach dem
bewährten Schema bereits selbst ausfüllen; „Sie durch
geistige Bestimmtheit erläutern, würde auch hier die
Problematik nicht erschöpfen. Sondern wir stellen die
Frage auf das organische Prinzip ab, das jener künst
lerischen Darstellungsart zugrunde liegen muß. Wir
fragen also nach der erogenen Zone, die sich in
den zeichnerisch-malerischen Arbeiten widerspiegelt“
(S. 122 und 123), d. h. wir fragen, „welche der drei
allgemeinsten Gruppen erogener Zonen; Körperhaut,
Genitalien, Schleimhaut, als Grundlage der zeich
nerischen Künste in Frage kommen möchte. Es schei
den zunächst die Genitalien aus, weil diese bereits für
die Baukunst und Plastik die besonderen Impulse ge
geben haben“ (S. 124) ■—- wirklich eine seltsame Art
zu argumentieren! Für S. ist es klar, daß ,,.... die
Körpermasse und die Hautoberfläche in einer
engsten Beziehung zu den Darstellungen der primitiven
zeichnerischen Kunst stehen. Denn der naturvölki
sche Zeichner und Maler stellt die organische
Gestalt in ihrer Ganzheit dar.“ (S. 125.) Jetzt ver
steht man, weshalb S. sich veranlaßt sah, ein besonderes
„Gesetz der Flächeneinheit“ aufzustellen! „So wird
man von der erogenenZone der Hautbedeckung
des Körpers her die zeichnerischen Künste
abzuleiten haben“ (S. 125), wobei nicht ganz klar
wird, wie aus der Tatsache, daß den Primitiven „augen
scheinlich der Körper in seiner Gesamtheit seines flächen
haften Umrisses interessiert“, und aus den angeblich
sexuellen Motiven dieses Interesses das Ganze der zeich
nerischen Künste, vor allem die geometrisch-ab
strakten Zeichnungen, erklärt werden sollen. S.
bleibt uns diese Erklärung auch schuldig.
In dem Kapitel über die Körper-Kunst ist folgende
Gedankenkette (auf S. 142 und 143) besonders ver
blüffend (und zugleich typisch!): „Es erscheint eigentlich
frappant, daß man nicht immer mit ornamentierten oder
sonst kunstreich hervorgehobenen Penisstulpen usw. mit
größerer Betonung auf das wichtigste Glied am männ
lichen Körper hinweist. . . . Der Prozeß der Verdrängung
der Sexualität .... ist es wohl, dem wir es zuschreiben
müssen, daß mit besonderer Hartnäckigkeit dem männ
lichen Geschlechtsorgan die Wertschätzung verweigert
wird, auf welche es, logisch betrachtet (!), in hervor
ragendstem Maße Anspruch hätte. Mit umso größerer
Energie hat man sich bei den Primitiven die Umformung
und Ausschmückung der anderen Körperteile angelegen
sein lassen. Es ist nun charakteristisch, daß sich vor allem
dem Haupte ihre praktische Ästhetik zugewandt hat —
vertritt doch der Kopf vielfach symbolisch die
Eichel des Gliedes“!
Und auf S. 146 sagt S. abschließend: „Es ist charak
teristisch, daß es sich gerade um die Schleimhautpartien
des Gesichtes handelt, also um erogene Zonen. So löst auch
auf diesem Gebiete der Körperumformung die Psychoana
lyse wesentlich Fragen in verhältnismäßig einfacher
Weise“ — wobei ihm offenbar nicht bewußt geworden ist,
daß er im besten F alle erklärt hat, warum diese Teile
des Körpers geschmückt bzw. umgestaltet werden und
warum andere nicht, daß er aber nicht den geringsten
Beitrag zu seiner selbstgestellten Aufgabe geliefert hat,
die Formen der Künste, in diesem Falle der Körper-
Kunst, zu erklären.
Ähnlich überraschend argumentiert S. bei der Frage
der Erklärung der Formen der Körperbemalung, Narben
verzierung und Tatauierung; Zunächst stellt er fest,
daß sie in ihrer Form (also in der Beziehung, die recht
eigentlich zur Diskussion steht) sexuell „neutral“ seien —
so daß also der Leser, der nicht wie S. „Kenner der psycho
analytischen Forschungsergebnisse“ ist, glauben könnte,
hier gäbe es einmal keine Möglichkeit, ja überhaupt keinen
Anlaß zu einer anderen „Deutung“ als eben ihrer Her
leitung aus andern Formen („Stilkritik“) oder aus dem
Inhalt oder eventuell dem Material. Aber S. belehrt uns,
daß „das eigen t liehe Objekt (der Körperbemalung usw.)
die erogene Sphäre der Hautfläche ist“. „Diese wird er
setzt durch eine sexuell neutrale Schicht mit rationalen
und schmuckhaften Charakterzügen.“ (S. 150.) Er sieht
darin „die Rückkehr des Verdrängten und die Erreichung
des Zieles auf dem Umwege über die symbolisierende
Stellvertretung.“ (S. 150.) Irgendwelche Beweise oder
auch nur nähere Ausführungen hierzu hält er offenbar
nicht für nötig.
Da neben Phallus und Hautfläche der Mutterleib nicht
fehlen darf, so belehrt uns S., daß bei der bei einigen
Naturvölkern vorkommenden „ausgesprochenen Vor
liebe der Männer für fettleibige Frauen,“ zu der „in
manchen Gegenden noch die künstliche Verdickung der
Waden hinzutritt“ (bei Frauen und Männern!), „für
den Kenner der psychoanalytischen For
schungsergebnisse der Gedanke an den Mutter
leib unmittelbar naheliegt. Man darf seine Nach
ahmung in jenen lebenden Fettkolossen vermuten. Die
Idee der Fruchtbarkeit wird durch sie angedeutet. Was
man sonst noch als Grund auszuführen geneigt sein
könnte, als da ist z. B. die Dokumentierung des Reich
tums, da die Züchtung der Wohlbeleibtheit nur Reichen,
Trägen praktisch möglich ist, trägt offensichtlich den
Stempel der Nebenbedeutung(!). Die Parallele zwischen der
umfänglichen Weibesgestalt und dem schoßhaften Innen
raum der naturvölkischen Bauweise ist durch die Identität
ihres psychologisch-physiologischen Sinnes mitgegeben.
In beiden Fällen ist es der Mutterleib, von dem der Anreiz
zur künstlerischen Wertschätzung ausgeht“ (S. 139 und
14°).
„Auf dem Grund eines mannigfach gestützten Analogie
schlusses“ versucht S. die „geschichtliche Reihen
folge der Künste“ folgendermaßen festzustellen:
Freud hat drei Stufen der sexuellen Entwicklung des
Kindes aufgestellt: Autoerotismus, Narzißmus, Objekt