A. Originalarbeiten.
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die von einem Spiegel redet, in dem man allzeit die „Wahrheit“ zu
schauen vermag. Die japanische Erzählung, die dem versilberten
Spiegel gilt, der im Tempel von Ise als heiligstes Palladium Japans
auf bewahrt wird, ist aus mehreren Gründen höchst beachtenswert:
„Die Sonnen- und Lichtgöttin Ainaterasu verbarg sich einst vor den
Verfolgungen ihres Bruders, des Meergottes Suzan, in einer ver
borgenen Höhle. Finsternis herrschte nun überall, und die Götter
konnten die erzürnte Göttin durch keine List noch Gewalt aus
ihrem Versteck hervoriocken. Da schmiedete der Feuergott den
ersten Spiegel aus Metall und stellte ihn vor der Höhle der Göttin
auf. Neugierig besah sich diese im Spiegel und vuirde von den
Göttern gefangen genommen. Die Götter versöhnten Amaterasu,
indem sie ihr den Spiegel schenkten. Als Amaterasu ihren Neffen,
den Urgrossvater des ersten Kaisers von Japan, in die Welt sandte,
um sie zu unterwerfen, gab sie ihm drei Geschenke, erstens den
kostbaren Stein Magatama, eine Krystallkugel, Sinnbild der Seele
des Weibes, ein Schwert, Sinnbild der Seele des Mannes, und den
Spiegel, das Sinnbild ihrer eigenen Seele. „Betrachte“, sagte die
Göttin zu ihm, „diesen Spiegel als meinen Geist, bewahre ihn in
dem Hause und in dem Zimmer, wo du weilst, und verehre ihn,
wie du mich verehren würdest. Meine Seele ist die Wahrheit, und
wenn du in diesen Spiegel schaust, wirst du die Wahrheit schauen.“ 1 )
Mehr als ein Zug der japanischen Überlieferung kehrt in den
Sagen anderer Völker wieder. Gleich dem japanischen Feuergott,
der den ersten Spiegel aus Metall schmiedete, schmiedete Hephästos
den ersten Spiegel aus Metall; wie Amaterasu durch einen Spiegel
zu Friedensgedanken bewegt wurde, so tvard Dionysos, der sich in
einer Grotte verborgen hatte, durch das Betrachten seines eigenen
Bildes in dem von Hephästos verfertigten Spiegel versöhnt. Hin'
wieder leitet die griechische Sage hinüber zur indischen. Wie nach
einer hellenischen Kosmogonie Dionysos, als er sein Bild im Spiegel
bemerkte, die Welt zu erschaffen begann, so betrachtete nach einer
indischen Kosmogonie das Urwesen sich in einem Spiegel und wurde,
sobald es sich erschaute, als Schöpferkraft thätig. 1 2 ) Ähnlich ist
eine in Assam gefundene Sage; dieselbe erzählt, dass die von der
Gottheit Simbonga aus dem Himmel Verbannten in einem Spiegel
ihre Gottähnlichkeit erkannten und hierauf sich weigerten, die von
ihnen bis dahin gehorsam geleistete Arbeit fernerhin zu leisten. 3 )
1) v. 'Wlislocki, Vom wandernden Zigeunervolke. Hamburg 1890. S. 219.
2) vgl. Müller a. a. 0. S. 624.
3) Bastian, Völkerstämme am Bramaputra. Berlin 1883. S. 116.