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Besprechungen
riellen Kultur, wie z. B. der Viehwirtschaft, die Sterbfallverzeichnung offensichtlich in viel höherem
Maße mit der Wirklichkeit übereinstimmt. Dies wiederum erscheint nicht als Zufall, wenn man die
ökonomische und fiskalische Intention des Stifts in Rechnung stellt: Ein Stück Großvieh zu inven
tarisieren war wichtiger, als jedes Möbelstück zu berücksichtigen (das beweisen schon die vorhan
denen Schätzwertangaben!). Sicherlich spielte dabei auch die Tradition eine Rolle, die manchen Be
amten von der Berücksichtigung neuer, ungewohnter Nachlaßgegenstände abgehalten haben mag. Den
Ausschlag für die Inventarisierung oder Nichtinventarisierung aber gab letztlich nicht die Tatsache,
„daß die alte bäuerliche Welt durch überlieferte Ordnungen bestimmt war“ (S. 127), sondern die
Interessenlage der Feudalherrschaft als der Urheberin dieses Quellenguts. Die Verkennung des feu
dalen Klassencharakters der Sterbfallinventare ist ein Manko der vorliegenden quellenkritischen Un
tersuchung, deren Ergebnisse in den ausgewählten Sachbereichen sonst durchweg überzeugen.
ULRICH BENTZIEN, Rostock
FRANK-DIETRICH JACOB, Historische Stadtansichten. Entwicklungsgeschichtliche und quellen-
kundliche Momente. Leipzig, Seemann Verlag, 1982. 223 S., 220 Abb.
Mit dieser Veröffentlichung verfolgt der Verf. eine doppelte Absicht: Er möchte dem Leser einen
umfassenden Überblick über die Entwicklung der Darstellung historischer Stadtansichten vermitteln
sowie ihm Möglichkeiten einer Nutzung solcher Abbildunge?i als geschichtliche Quelle auf zeigen.
Abbildungen von Städten reichen bis ins frühe Mittelalter zurück. Häufig Teil religiöser Darstel
lung, sind sie jedoch nicht Wiedergabe einer Realität, sondern - wie etwa die Abbildung Jerusalems
(Abb. 5, 10) - Schöpfungen reiner Phantasie, wenn sie auch in Details auf bestimmten architektoni
schen Gegebenheiten ihrer Zeit fußen. Erst mit dem Beginn der Renaissance wurde, wie Jacob be
tont, in zunehmendem Maße Wert auf Wirklichkeitstreue gelegt. Das grundlegend veränderte Ver
hältnis des Menschen zu der ihn umgebenden Natur führte seit dem 15. Jh. zu Bemühungen um eine
realere Wiedergabe des Bildes der Umwelt. Erste Kosmographien mit vervielfältigten Holzschnitten
oder Kupferstichen kamen dem gewachsenen Interesse an fremden Landschaften entgegen. Unter
diesen Illustrationen dominieren Darstellungen von Stadtansichten, in denen die mit ihrer Anferti
gung beauftragten Künstler in wachsendem Maße wirklichkeitsgetreue Abbildungen anstrebten. Der
Höhepunkt in dieser Hinsicht wurde zweifellos in den Arbeiten des als Zeichner wie als Verleger
tätigen Matthias Merian des Älteren erreicht. Sein „Theatrum Europaeum“ (1642-88; 30 Bände),
eine Topographie Europas, enthält neben knapp 100 Karten etwa 2 000 Kupferstiche von Städte
ansichten. Seit dem 17. Jh. gewann auch das gemalte Stadtbild wieder an Bedeutung. Ausgehend von
den frühen flämischen Werken des 16. Jh., wurden im 17. Jh. vor allem niederländische Künstler
darin führend. Unter ihnen nennt der Verf. als wohl bekanntesten den Meister Jan van Goyen mit
seinen rund 100 farbigen Stadtansichten.
Neben den bisherigen Formen der Darstellung beschreibt Jacob als für das 18. Jh. besonders
charakteristische neue Art der Stadtabbildung die Vedute, eine in den Hauptzügen zwar genaue,
zugleich aber auf eine bildmäßige Wirkung hin mehr oder minder frei arrangierte Wiedergabe einer
Landschaft mit Architektur im Vordergrund. Angeregt wurden derartige Abbildungen zum einen
durch den frühen „Tourismus“ dieser Zeit. Begüterte Reisende wünschten das auf ihren Fahrten Ge
sehene im Bild als Andenken zu bewahren, und einzelne Adelige verpflichteten zu diesem Zweck
sogar Künstler als Begleiter. Andere Veduten entstanden auf Anforderung feudaler Landesfürsten,
die eine Darstellung ihrer Territorien zu Repräsentationszwecken wünschten. - Die romantischen
Maler des frühen 19. Jh. bevorzugten zunächst die Naturlandschaft als Gegenstand der Darstellung,
während die Stadt oft zur bloßen Kulisse wurde. Sie erscheint nicht selten sogar in eine ihr nicht
entsprechende Landschaft gestellt. Doch später löste erneut das Streben nach Realität diese gefühls
betonte Darstellungsweise ab. Stahlstich und Lithographie wurden die neuen Techniken, und es ent
standen noch einmal - wie Jahrhunderte zuvor - Darstellungswerke ganzer Landschaften. Diese Ent
wicklung fand ihr Ende mit der Erfindung der Photographie. Mit ihr und der damit ermöglichten
massenhaften Herstellung tritt nun die Ansichtspostkarte an die Stelle der künstlerischen Abbildung
der Stadt.