Mit besonderer Herürbsichtigung der Anthropologie und Ethnologie.
Begründet von Karl A n d r e e.
In Verbindung mit Fachmännern herausgegeben von
Dr. Richard Kiepert.
Braunschweig
Jährlich 2 Bände ä 24 Nummern. Durch alle Buchhandlungen und Postaustalten
zum Preise von 12 Mark pro Baud zu beziehen.
1887.
Desirü Charnay's jüngste Expedition nach Uucatan.
ii.
Bei Fortsetzung der Ausgrabungen fand Charnay Bruch
stücke und Andeutungen genug, um mit Hilfe von Er
zählungen einzelner Bewohner Jzamals, welche jetzt ver
schwundene Theile noch gesehen hatten, eine Reconstruction
des ganzen Bauwerkes unternehmen zu können, wie sie
unsere erste Abbildung zeigt. Selbst die Farben, mit welchen
die Stuckverziernngen der Wandflächen bemalt waren, hatten
sich stellenweise erhalten; als sie unter der Einwirkung der
Luft verschwanden, verfiel Charnay auf das Mittel, sie
sofort zn erneuern und dann abzuphotographiren. Die
Verzierung besteht ans rothen Palmen und Rosetten, sowie
ans blauen geometrischen Einfassungen, Alles auf gelbem
Grunde; genau dieselben Ornamente finden sich noch heutigen
Tages in den besseren Häusern Jzamals, und es unterliegt
nicht dem geringsten Zweifel, daß sich diese Knnstübnng
ununterbrochen von der Zeit der Conguista bis heute fort
geerbt hat. Dieselben Muster und Farben finden sich auch
noch bei den Kinderspielsachen, als welche dieselben Gegen
stände, Vögel, Schildkröten, Männer, die zu Pfeifen ein
gerichtet sind, dienen, welche auch von den alten Mayas
abgebildet worden sind. — An der Reconstruction des
Tempels selbst ist nichts erfunden,. nur Fehlendes nach
Analogie wirklich erhaltener Ueberreste und Funde ergänzt;
daß diese ganzen, mit feinpolirtem Kalkputz überzogenen
Gebäude im grellsten Farbenschmucke prangten, das beweist
außer den erhaltenen Spuren die gleiche Sitte bei den
Aegyptern, Griechen und den Völkern des Orients, in deren
von der strahlendsten Sonne beschienenen Ländern ein weiß
abgeputztes oder ans weißem Marmor errichtetes Gebäude
den Augen wehe thun würde. In Spanien, Portugal und
Italien sieht man blau, roth oder gelb angestrichene Häuser,
Globus LH. Nr. 14.
welche uns Nordländern fast undenkbar erscheinen möchten;
es geschieht das ans ganz demselben Grunde, als wenn man
bei Schnee oder ans Gletscherfahrten sich eine blaue oder
rauchgraue Brille aufsetzt.
Das indianische Volk, welches jene Denkmäler hinter
lassen hat, pflegte aber nicht nur die Architektur, sondern
auch Litteratur, Geschichte und Dichtkunst. Die Chroniken
berichten von Theatern, auf welchen die Eingeborenen selbst
noch nach der Conguista Lustspiele aufführten; und ebenso
wissen wir von Gedichten des Königs von Texcoco, des
großen Netzahualcoyotl, von Thierfabeln u. f. pv. Daß solche
Geisteserzeugnisse aufgeschrieben worden sind, scheint nicht
wahrscheinlich. Die Figurenschrift der allbekannten mexi
kanischen und Maya-Handschriften war dafür nicht geeignet;
sie konnte wohl für Kalender dienen, um die Zeit der
Feste und der religiösen Ceremonien zu fixiren, man konnte
mit ihr die Erinnerung an einzelne Kriege und Eroberun
gen festhalten, Jagd und Fischfang schildern und über
Naturerscheinungen, wie trockene und fruchtbare Jahre,
Vulkanausbrüche, Kometen u. f. w. berichten, aber für Ge
dichte und Theaterstücke reichte sie nicht aus, ebenso wenig
wie für die eigentliche fortlaufende Geschichtserzühlung.
Dafür trat die mündliche Ueberlieferung, das menschliche
Gedächtniß ein; solche Traditionen mögen sich wortgetreu
durch Jahrhunderte hindurch fortgepflanzt haben. Erzählt
man doch zum Beweise für die Zähigkeit, mit welcher sie
festgehalten werden, daß Australier noch jetzt in einer von
der ihrigen verschiedenen Sprache Gesänge und Legenden
wiederholen können, die sie gar nicht verstehen.
Während die Arbeiten in Jzamnl ihren Fortgang
nahmen, unternahm Charnay verschiedene Ausflüge in die
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