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Mit besonderer Herüelrsithtigung der Anthropologie und Ethnologie.
Begründet von Karl Andrer.
In Verbindung mit Fachmännern herausgegeben van
Dr. Richard Kiepert.
Braunschweig
Jährlich 2 Bände ä 24 Nummern. Durch alle Buchhandlungen und Postanstalteu
zum Preise von 12 Mark pro Band zu beziehen.
1885.
T o u rnai und fei it e Um g eb uu g.
(Sämmtliche Abbildungen nach Photographien.)
Vom Gipfel des Mont de la Trinite, welcher sich über
die Ebenen der alten Landschaft Tonrnaisis zwischen Dender
und Schelde mit ihren vier Städten und 83 Dörfern er
hebt, sieht man vor sich ans einer Masse von Dächern die
fünf hohen viereckigen Thürme von Notre-Dame von
Tournai emporsteigen. Mögen sie auch noch so ver
schwommen wegen der Entfernung und des Nebels erschei
nen, so macht doch das kühne Aufragen ihrer Zwillings-
masscn einen gewaltigen Eindruck, und das Heiligthum,
welches sie krönen, mit seinen mystisch dunkeln Schissen ist
dieser Thürme würdig. Von allen alten Städten Belgiens
kann sich keine eines solchen Alters rühmen, als Tournai,
die Civitas Nerviorum der Römer, das Tornacum der
späteren Zeit, das im fünften Jahrhundert von den ein
dringenden Franken erobert wurde. Hier stand die Wiege
der französischen Monarchie, hier residirten die fränkischen
Könige von Chlodio an, bis Chlodwig 486 in Folge der
Ausbreitung seines Reiches nach Süden seinen Sitz nach
Soissons verlegte. Schwere Kämpfe hatte die erst zu
Flandern gehörende, dann durch Philipp den Schönen mit
Frankreich vereinigte Stadt anszufechten, so 1302 gegen
die Vlümen, 1303 gegen die Engländer und Vlämcn,
1513 gegen Heinrich VIII., 1521 gegen Karl V., 1581
während der niederländischen Unruhen (Tournai war 1526
im Frieden von Madrid an die spanischen Niederlande
gekommen) gegen den Herzog von Parma; 1667 eroberte
es Ludwig XIV., behielt es und ließ seine Festungswerke
durch Vauban verstärken; 1709 nahmen es Prinz Eugen
und Marlborough wieder ein und die Stadt wurde im
Frieden von Utrecht mit den österreichischen Niederlanden
Globus XLV1II. Nr. 24.
vereinigt. 1794 wurde sie wieder französisch, 1814 hol
ländisch und endlich 1830 belgisch. Aber alle diese Wechsel
fälle des Krieges scheinen den Muth der mit viel Selbst
vertrauen begabten Einwohner stets nur gesteigert zu haben;
selbst Frauen griffen zu den Waffen und starben auf den
Wällen. Im Mittelpunkte der heutigen Stadt, wo ihr
Forum, die prächtige Grand’ Place, sich ausdehnt, und der
Belfried und die fünf Thürme von Notre-Dame aufragen,
steht die Bildsäule der Christine de Lalaing, Fürstin von
Epinoy, dargestellt, wie sie gegen den Feind marschirt. Sie
erinnert an eine der ruhmreichsten Thaten Tournais, an
den zwei Monate währenden Widerstand, den die Stadt
unter Leitung der Fürstin dem Herzoge von Parma ent
gegensetzte; in den Kämpfen jener Tage ließen nicht weniger
als 60 Frauen und Mädchen und 33 Knaben das Leben
für ihre Vaterstadt.
Damals herrschte in Tournai, oder, wie sie im Vlämi-
schen mit treuerer Anlehnung an das alte Tornacum heißt,
Doornik, die größte Betriebsamkeit; es wurden in ihr nicht
weniger als 72 Hauptkünste und -Handwerke betrieben, und
weit und breit war das dort gefertigte Tnch berühmt.
Kriegswesen und Industrie wurden mit gleichem Nachdrucke
gepflegt; ihre Reiterei ließ alle anderen hinter sich zurück,
und bis in die Mitte des 17. Jahrhunderts galt ihr Fuß
volk für unüberwindlich. Den französischen Königen leistete
dasselbe so wichtige Dienste, daß es die Lilien in seinem
Banner führen durfte, und bis heutigen Tages haben sich
dieselben im Stadtwappcn erhalten. Echt königlich vergalt
später Louis XIV. diese seinen Vorgängern erwiesene Treue,
indem er 1667 eine der fürchterlichsten Beschießungen
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