Mit besonderer Herüeksichtigung der Anthropologie und Gthnologie.
Begründet von Karl Andrer.
In Verbindung mit Fachmännern herausgegeben van
Dr. Richard Kiepert.
Braunschweig
Jährlich 2 Bände ä 24 Nummern- Durch alle Buchhandlungen und Postaustalten
zum Preise von 12 Mark pro Baud zu beziehen.
1885 .
Aus dem südlichen I n d i e n.
(Nach dem Französischen von Emile Guimet.)
IV.
(Die Abbildungen nach Photographien
Die Weiterreise von Tritschinapali nach Tandschor führte
durch ein fruchtbares, mit kleinen Tempeln, Alleen von
thönernen Riesenpferden und Seen ausgeschmücktes Land,
bis sich auf einem von Befestigungswerken umsäumten
Felsen der große Tempel von Tandschor, eine gewaltige
Pagode, das vollendetste Werk brahmanischer Architektur,
zeigte. Von den beiden Befestigungsmanern ist die äußere
sehr alt und zur Besetzung durch Bogenschützen eingerichtet,
während die innere, eine Schöpfung des vorigen Jahr
hunderts, zur Aufnahme von Kanonen dienen kann. Der
erste Gopuram, durch welchen der Weg in das Innere des
Tempels führt, ist von einer bizarren Eleganz und ein
einzig dastehendes architektonisches Werk mit sieben Stock
werken , welche mit nach hinten gebogenen, heiligenschein
artigen Stiruziegeln, die an Pfauenschwänze erinnern, aus
geschmückt sind. . Wie man sagt, daß gothische Bauten
gleichsam aus Spitzen bestehen, so scheint dieser Thurm wie
aus Federn zusammengesetzt, die sich meist fächerförmig
zusammen gruppiren und dem Gebäude trotz seiner Groß
artigkeit den Anschein einer erstaunlichen Leichtigkeit geben,
sieben diesen Skulpturen finden sich Darstellungen von
Göttern, besonders des Siva, dem der Tempel geweiht ist,
und des Krischna, der letzten Inkarnation Wischnu's, des
liebenswürdigen neckischen Gottes, meist tanzend oder mit
den sich hinter Säulchen versteckenden jungen Mädchen
schäkernd.
Globus XLVIII. Nr. 15.
und Zeichnungen von F. Nägamey.)
Gleichsam um durch den Kontrast die später folgenden
Eindrücke zu steigern, ist der zweite Gopurani nur niedrig
und unschön, doch erscheint hinter demselben die Höhe, An
muth und Mächtigkeit des Tempels in vollstem Maße.
Man tritt hinein in einen von Süulengüugen und offenen
Kapellen eingefaßten Hos, in welchem von Baumgruppen
und Tcmpelchcn umgeben das große Heiligthum, und vor
demselben in einer offenen Steiuhalle der in ganz Indien
berühmte kolossale Stier von Tandschor liegt.
In dieser Vereinigung der verschiedenartigsten Konstruk
tionen ist es in wunderbarer Weise geglückt, alle Charaktere
und Empfindungen der Architektur zum vollendeten Aus
drucke zu bringen: die Leichtigkeit und Mächtigkeit, Pracht
und Einfachheit, Ruhe und Beweglichkeit, Gleichmuth und
Uebermuth. Der ganze Tempel gleicht einer großartigen
Dichtung, einem religiösen Heldengedichte von reinster
Form, genialer Ausführung und lieblicher Ausschmückung
im Einzelnen.
Obgleich in braunem Porphyr ausgchauen, erscheint das
riesige Steinbild des Stieres wie aus glänzender Bronze,
in Folge der steten Benetzung desselben mit Oel und Butter.
Es ruht auf einem mit mehreren Stufen versehenen Unter
baue und unter einem Stcindache, das von anscheinend
überaus zierlichen Säulen getragen wird, offenbar um
dadurch die gigantische Masse des Ungeheuers noch mehr
hervortreten zu lassen. So kommt es, daß das eigentlich
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