Mit besonderer Herücbsichtignng der Anthropologie und Ethnologie.
Begründet von Karl Andree.
In Verbindung mit Fachmännern herausgegeben von
Dr. Richard Kiepert.
Braunschweig
Jährlich 2 Bände ä 24 Nummern. Durch alle Buchhandlungen und Postanstalten
zum Preise von 12 Mark pro Band zu beziehen.
1885 .
Aus d e in südlichen Indien.
(Nach dem Französischen von Emile Guimet.)
I.
(Die Abbildungen nach Zeichnungen von F. Rogamey.)
Guimet verfolgte bei seinen Reisen besonders den Zweck,
die Religionsverhältnisse der ostasiatischcn Völker zu stu-
diren; seine Schilderungen führen uns daher vorzugsweise
das hieraus Bezügliche, die Art der Götterverehrung, die
dazu dienenden Bau- und Kunstwerke u. A. vor Augen,
flößen aber dadurch das höchste Interesse ein, daß wir
gerade aus solchen Schilderungen die Großartigkeit und
märchenhafte Pracht Indiens ermessen lernen, welches
seinen Reichthum mit Vorliebe in den seinen Göttern ge
weihten Menschenwerken zur Geltung brachte. Guimet
selbst ist ein reicher Lyoner, der in seiner Vaterstadt am
Boulevard du Nord ein prächtiges Museum für orientalische
Religionen und Ncligionsgeschichte gebaut hat, welches jetzt
nach Paris übersiedeln soll. Daneben beabsichtigt er eine
Art orientalischer theologischer Facnltät zu errichten, wo
Bonzen, Panditen und andere orientalische Priester die
Lehrstühle erhalten sollen.
Wir treffen Guimet auf der Reise von Ceylon nach
der Südküste Vorder - Indiens, und sehen ihn hier in
Tuticorin landen.
Von einem eigentlichen Hafen ist bei Tuticorin
nicht die Rede; sechs Seemeilen von der Stadt entfernt
ging das Schiss vor Anker und war bald darauf von einer
wahren Flotte von Segelbarken umringt, in welchen die
aus den Kaffeeplantagen ans Ceylon nach ihrer Heimath
an der Küste von Malabar zurückkehrenden Tamulen ans
Globus XLV1II. Nr. 12.
Land ausgeschifft werden sollten. Dieselben ziehen all
jährlich in großen Schaaren nach Ceylon hinüber, um hier
als Arbeiter in den Kaffeeplantagen zu dienen. Nach
viermonatlicher Arbeit haben sie sich dort so viel verdient,
daß sie, in die Heimath zurückgekehrt, vier Monate von den
Ersparnissen gut leben können, nach deren Verbrauch aber
eine ebenso lange Periode des Hungers und der Entbeh
rungen für sie beginnt, die erst beim Wiederbeginn der
Plantagenarbeit ein Ende nimmt. Während die Tamulen
ausgeschifft wurden, warteten die Reisenden schmerzlich aus
die bestellte Schaluppe, um auch das Schiff verlassen zu
können, denn für sie als Gentlemen würde es nicht schicklich
gewesen sein, in denselben Booten mit den Tamulen an
Land zu gehen. Endlich traf das erwartete Schiff ein
und da durch die Verzögerung der nach Madura abgehende
Zug doch einmal versäumt war, so bot sich Gelegenheit,
bis zum anderen Morgen die Stadt anzusehen. Es ist
überhaupt eine sonderbare Erscheinung, daß der Engländer,
der in London immer so sehr pressirt ist, es in den Kolo
nien mit der Zeit nicht so genau nimmt.
An Land angekommen, wurden die Reisenden zunächst
in einen öffentlichen „Bungalow" gewiesen; es sind dies
große, an den Landstraßen Indiens von den Engländern
errichtete Gebäude, welche von einem Eingeborenen beauf
sichtigt werden und zur Verfügung europäischer Reisender
stehen. Im Inneren enthalten sie nichts, weder Bett,
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