Mit besonderer Berücksichtigung der Anthropologie und Ethnologie.
Begründet von Karl Andrer.
In Verbindung mit Fachmännern herausgegeben von
Dr. Richard Kiepert.
Braunschweig
Jährlich 2 Bände ä 24 Nummern. Durch alle Buchhandlungen und Postaustalten
zum Preise von 12 Mark xro Band zu beziehen.
1885 .
Amazonas uui> Kordilleren.
(Nach dem Französischen des Herrn Charles Wiener.)
IX.
Auf der Reise von Quillucaja nach Chasuta auf dem
von hohen Bergketten eingeengten Huallaga kam Wiener
nur langsam vorwärts, da das Boot mit langen Stangen
längs des Ufers fortbewegt werden mußte; erschöpft vom
Fieber gelangte er in Chasuta an, wo der Gouverneur ihm
keine Träger nach dem sieben Stunden entfernten Tarapoto
geben wollte, ihm jedoch auf feine Bitte ein Obdach gewährte.
Nach drei Tagen entschloß er sich, Wiener gegen eine enorme
Entschädigung Träger zu verschaffen; letztere, Cocamilla-
Jndianer, von denen eine Gruppe in unserem Bilde
dargestellt ist, bekamen jedoch von der Bezahlung nie etwas
zu sehen. Die Schilderung, die Wiener von den in diesen
Gegenden angestellten Gouverneurs im allgemeinen giebt,
ist merkwürdig genug, um hier berührt zu werden. Ein
Gouverneur in diesen Gegenden, sagt er, ist mit wenigen
Ausnahmen ein Mann, der, wenn er schreiben kann, dies
sicher nicht orthographisch thut. Durch den Unterpräfekten
ernannt, begiebt er sich mit einem Pack Waaren in seinen
Distrikt; bei dem Ausschiffen erlauben sich die Indianer
(jener ist gewöhnlich barfuß) die Frage: „Wer ist dieser
Weiße?" „Ich bin der Gouverneur", lautet die Antwort.
„Ah! Was hast du da in deinem Boote?" Die Bahn
ist nun gebrochen, die Neugierde und die Sehnsucht nach
den Waaren erregt; dieselben werden jetzt auf Kredit an
die Indianer verkauft, welche die Schuld abarbeiten sollen,
wobei jedoch die Berechnung so eingerichtet wird, daß dies
nie geschieht.
Auch diese Mißwirthschaft trägt dazu bei, daß dem
Globus XLVil. Nr. 16.
Gebiete des Amazonas nur ein kleiner Theil der Schätze
abgewonnen wird, die dasselbe liefern könnte. Der berühmte
Agassiz sagte einmal, daß die Schätze, welche da verfaulten,
im Stande wären, dem europäischen Pauperismus abzu
helfen ; jetzt, meint Wiener, nutzt man etwa den hundertsten
Theil derselben aus, aber dieser geringe Theil hat einen
Werth von jährlich 60 Millionen Francs. Mit einer
verhältnißmäßig kleinen Ausgabe könnte man diesen Reich
thum ausbeuten; man brauchte nur jeden Nebenfluß durch
eine Dampfschaluppe befahren zu lassen; dies wäre aber
auch unbedingt nöthig, denn die Bootfahrt dauert zu lange
und ist zu anstrengend. Um von Para nach Tabatinga
zu rudern, würde man neun Monate gebrauchen; man
macht die Fahrt gegenwärtig unter Dampf in 16 Tagen,
es könnte aber sogar in 10 Tagen geschehen. So wie die
Sachen jetzt stehen, fängt der Handel an möglich zu werden;
auf dem oberen Amazonas sind die Verbindungsmittel jedoch
noch ungenügend, und überhaupt müßte das Gauze besser
organisirt werden, um sowohl aus dem Aufkauf der Er
zeugnisse des Landes als aus dem Verkaufe europäischer
Produkte den größten Nutzen zu ziehen.
Wiener trat die Weiterreise, die ihn zum letzten Male
über die Cordillere und zum Gestade des Stillen Oceans
an seinen Konsulatssitz führen sollte, zu Fuß an; der Weg,
wenn man ihn so nennen kann, ist außerordentlich ermüdend
und zum Theil gefährlich, aber wunderbar schön. Am
zweiten Tage traf der Reisende auf eine Stelle, wo Gieß
bäche einen Theil des Gebirges mit fortgerissen hatten,
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