W. Kobelt: Skizzen aus Algerien.
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vorigen Jahre Uber 800 junge Kabylen und Kabylinnen
die Schulen und die Lehrer sind mit ihren Zöglingen sehr
zufrieden; einzelne sind schon in die Ecol68 normales
(Lehrerseminare) abgegangen und bald werden sie anfangen,
ihre Landsleute zu unterrichten. Wenn es den Kabylen
nach ginge, hätte längst jedes Dorf seinen Instrukteur, aber
die Leute sind zu schwer zu beschaffen und die Erlernung
der kabylischen Sprache ist nicht gerade leicht.
Seit Frieden in der Kabylie herrscht, nimmt die Bevölke
rung in wunderbarer Weise zu und quillt nach allen Seiten
über. Die Bevölkerungsdichtigkeit der Umgebung von Fort
National wird nur von wenigen französischen Departe
ments übertroffcn; trotz des unfruchtbaren Bodens kamen
dort schon 1866 beinahe 119 Menschen auf den Quadrat
kilometer und die mittlere Bevölkerungsdichtigkeit in der
ganzen Kabylie betrug 75,25 (in Frankreich nur 68,83).
So gering die Bedürfnisse des Kabylen sind, für den
einige Hände voll groben Gerstenmehles mit ein wenig
ranzigem Oel eine genügende Tagesration ist, so kann sein
Land doch natürlich diese Ueberzahl seiner Bewohner nicht
ernähren und sie strömen nach allen Seiten hinaus, um
als Tagelöhner oder Hausirer sich etwas zu verdienen.
Wenn irgend möglich, kehren sie aber wieder zurück in ihr
theures Heimathland am kühlen Nordabhang des Adrar
Boudfel (Schneeberg, der bei den Anwohnern allgemein
gebräuchliche Name des Dschurdschura), dessen reine Luft
und dessen klares Quellwasser ihnen zum Leben unentbehr
lich dünken.
Bis 1854 haben Europäer das Kabylenland nur ganz
ausnahmsweise betreten; der Fremde war dort rechtlos und
vogelfrei, so lange er nicht von irgend einem einflußreichen
Kabylen die Anaia erhielt, das freie Geleite, das den
Beschützer verpflichtet, seinen Schützling höher zu achten
als seinen eigenen Bruder und jedes ihm wiederfahrene
Unrecht zu rächen, als sei es ihm selbst geschehen. Selbst
ein armer Kabyle konnte mit Erfolg die Anaia gewähren,
denn keiner stand allein, jeder war der Hilfe seines Ssof
sicher, der zusammengeschworenen Verbindung, zu der er
gehörte und die für das geringste ihrer Mitglieder eintritt.
Die Anata eines Amin aber verpflichtete dessen ganzen
Stamm und eine Verletzung derselben führte sofort zu
Blutvergießen. Heute kann man das Land nach allen
Richtungen ohne die geringste Schwierigkeit durchwandern.
Mag man eine Empfehlung mitbringen oder nicht, man ist
gastfreundlicher Aufnahme überall sicher. Die Gastfreund
schaft gehört zu den Fundamentaleinrichtungen der Kabylen,
sie wird von Gemeindewegen geübt und der Amin hat dar
über zu wachen. Nach einer bestimmten Reihenfolge wird
der Gast bald diesem, bald jenem Hause zugewiesen und
der Amin ist bei Strafe verpflichtet, dem betreffenden
Familienvorstande rechtzeitig die Mittheilung zu machen,
daß nun die Reihe an ihn kommt und er die nöthigen
Vorräthe anzuschaffen hat. Muß er für vornehmere Gäste
besondere Aufwendungen machen, so entschädigt ihn die
Gemeindekasse; doch suchen in solchen Fällen die reicheren
Dorfbewohner gewöhnlich eine Ehre darin, den ärmeren
die Last abzunehmen. Für den Touristen finden sich an
den Hauptorteu gute Wirthshäuser, die ihn von der bei aller
Gastfreundschaft dem Fremden nicht sonderlich appetitlichen
kabylischen Küche emanzipiren, und ein Ansflug in die Kabylie
gehört zum Programm eines jeden Wintergastes in Algier.
Man fährt mit der Bahn nach Menérville, von da
nnt der Diligence durch die sogenannte Ebene vonBour'ni,
eine tiefe Einsenkung zwischen Menérville und Tizi
Ouzou, nach diesem Fort, übernachtet dort und ist bei
guter Zeit am anderen Morgen in Fort National.
Globus XLVII. Nr. 1.
Man muß aber dann denselben Weg wieder zurückmachen,
höchstens mit der kleinen Variante über Dra el Mizan
und Palestro, denn nach Westen hin führt nur ein Saum
pfad in einem schweren Tagesritt nach Tizimalt und dem
Sahelthal. Das war für uns, denen ohnehin das Urge
stein der Kabylie wenig Ausbeute an Schnecken versprach —
die hohen Kalkkämme sind vor Ende Mai nicht zugäng
lich — wenig verlockend und wir entschlossen uns darum,
eine Straße einzuschlagen, die nur selten von Touristen
betreten wird, nämlich dem Südabhang des Dschurdschura
entlang nach Bcni Mansour und von da das Sahelthal
hinab nach Bougie. Betraten wir auch so nicht die eigent
liche grande Kabylie, so umkreisten wir dafür das Bergland
an seiner Außenseite und lernten, immer auf von Kabylen
bewohntem Gebiete bleibend, das Thal des Jsser und das
des Sahel kennen, die beiden Flüsse, welche den Dschur
dschura so völlig umgeben, daß er nur durch einen schmalen
Rücken mit dem Hochplateau und dem Dschebel Dira bei
Aumale zusammenhängt. Die Tour ist heute noch einiger
maßen unbequem; man fährt zwar mit der Diligence, die
Algier und Konstantine verbindet, bis Bord sch Beni
Mansour, aber dort, wo man um Mitternacht anlangt,
ist das Unterkommen sehr fraglich und erst am anderen
Nachmittag kommt ein Kärrnchen, das die einzige Post
verbindung das Sahelthal hinab darstellt. Schon im
nächsten Herbst indeß wird das Dampfroß die ganze Strecke
zwischen Algier und Konstantine durcheilen und im Jahre
1886 wird auch eine Linie von Bordsch Beni Mansour
nach Bougie eröffnet werden.
Die Bahn nach Menerville zweigt sich in Maison
Carree von der Mctidschabahn ab, aber die Züge laufen
bis Algier durch. Nach Ueberschrcitung des Harrasch
durchführt man den östlichen Theil der Ebene, der dem
centralen an üppiger Fruchtbarkeit nichts nachgiebt. Hier
liegen eine Anzahl größerer Güter, die mit allen Hilfs
mitteln moderner Technik betrieben werden. Dampf-
Centrifngalpumpen haben die Noriah ersetzt und der
Dampfpflng ist an die Stelle des altrömischen oder richtiger
sogar altphönizischen Instrumentes getreten, mit welchem
der Eingeborene das Land bearbeitet. Weiterhin hebt sich
der Boden etwas und bedeckt sich mit Rebenpflanzungen;
dann verlassen wir die Metidscha im engeren Sinne und
gelangen durch einen lichten Bestand hochstämmiger Eichen
in das Thälchen des Ued Boudouauou. In geringer
Entfernung vom Meere, das mehrfach sichtbar wird, geht
es weiter nach Alma, einem gut gedeihenden Kolonisten
dorfe. Von da ab beginnt die Bahn zu steigen und sich
zu winden. Große Strecken des Hügellandes sind noch in
arabischen Händen und mit wüstem Buschwald bedeckt, aber
längs der Bahn treffen wir immer häufiger neu gerodete
Weinberge, besonders ausgedehnt um die gegenwärtige End
station der Bahn. Menerville liegt, wie sein alter und
bekannterer Name Col des Beni Aicha andeutet, auf
einem Col, einer Paßeinsenkung in dem Bergzug, der im
Bou Zegsa kulminirt und das Jsserthal vom Thal des
Boudouauou und der Metidscha trennt. Wenn auch der
große Verkehr, dessen es sich eben als Kopfstation erfreut,
nicht mehr lange bleiben wird, so sichert ihm doch seine
Lage an dem Punkte, wo sich der Verkehr nach der großen
Kabylie abzweigt, eine gewisse Zukunft; auch ist die Um
gebung fruchtbar und zum Weinbau geeignet.
Der provisorische Bahnhof liegt noch diesseits der
Wasserscheide in einem tiefen Einschnitt, von welchem aus
ein Tunnel den Kamm durchbricht. Wenn man die Höhe
erreicht hat, erhebt sich gerade gegenüber die gewaltige
schneegekrönte Bergmaucr, aber sie taucht wieder hinter die
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