Neue Problemstellungen i. d. germanischen Religionsgeschichte.
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Neue Problemstellungen in der germanischen
Religionsgeschichte.
Von Dr. Alois Closs.
Gegenwärtig steht die ganze germanische Altertumskunde im Dienste
einer zielbewußten nationalen Wiedererweckungsbewegung. Schon in den Tagen
des Vaters der Germanistik, Jakob Grimm, war sie, ganz im Geiste der Ro
mantik, in die ihre Anfänge hineingehören, von diesem Ziele irgendwie be
stimmt. Damals wurde von den Vertretern der jungen Wissenschaft die Front
hauptsächlich gegen die heidnische Antike zugunsten des „christlich-germani
schen“ Ideals bezogen. Seitdem sich nun der Schwerpunkt der Disziplin vom
Philologischen zur Vorgeschichtsforschung mit ihrem archäologischen und an
thropologischen Zweig verschoben hatte und durch Gustav Kossinna das
Schlagwort von der deutschen Vorgeschichte als einer hervorragend nationalen
Wissenschaft ausgegeben worden war, grub sich auch die germanische Losung
immer mehr ins letzterfaßbare, ausschließlich Germanische hinab, und damit
hatte sich auch für die germanische Religionsgeschichte eine neue Lage und
eine neue Einstellung vorbereitet. Eine beträchtlich anwachsende Zahl von
Publikationen in den deutschen und insbesondere den nordischen Fachzeit
schriften beweist, daß ein Umbau nicht nur im Gange, sondern vielfach
geradezu durchgeführt ist.
Schon in der Quellenbewertung liegt heute das Hauptaugenmerk
deutlich abseits von den christlichen Bekehrergeschichten und Situations
berichten auf jenen Zeugen, die ihrem Gehalte nach die Verhältnisse vor dem
sinkenden Heidentum nicht nur angeblich möglichst ungetrübt wiedergeben,
sondern eben selbst den heidnischen Geist atmen. Daß dabei die „Germania“
des Tacitus ihren alten Platz behauptet hat, ist um so verständlicher, als sie
sich in der stets erneut zu bestehenden Feuerprobe des Vergleiches mit dem sich
häufenden prähistorischen Material und den bodenständigen Quellen gut zu
behaupten vermochte. Ihr gegenüber treten die sonstigen antiken Nachrichten
sehr zurück. Dafür stehen jetzt im Vordergrund die Runeninschriften 1 , die
1 Die ältesten germanischen Runen befinden sich auf Altsachen, und zwar in
Dänemark (3. Jahrh. n. Chr.). Der älteste germanische Text ist in einem Übergangs
alphabet von der etruskischen Schrift zu den germanischen Runen abgefaßt und erhalten
auf einem Helm aus Negau in Steiermark, der sich im Wiener kunsthistorischen Museum
befindet. Nach P. Kretschmer (Zeitschr. f. deutsches Altertum, 1929, S. 1 ff.) ist aus der
form des Helmes und dem Stil der Zeichen auf das 2. Jahrh. vor Christus zu schließen.