Neapolitanische Charakterköpfe ,
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ihn schmerzten , hinter den Pilgern zurückbleiben . In jener Gegend kam die Ziegenhaarperücke ihm abhanden , ein unter seinen Verhält - nissen großer Verlust . Uebrigens fing er nun an , auf Brandstellen , die er in den Wäldern fand , Nachts bei einem Feuer zu schlafen .
So ging seine Reise Tag und Nacht ununterbrochen fort ; Wälder , Schnee und Eis , — weiter sah er kaum etwas . Zuweilen traf er auf kleine Dörfer , dann und wann aus einen Schlitten , der ihn auch wohl eine Strecke Weges mitnahm , und übernachtete , wie es eben kam , im Wald oder in einer Schenke . So kam er nach der Stadt Noschel am gleichnamigen Flusse , wo im Frühjahr viele Pilger zusammenströmen , um nach Aufbruch des Eises , auf deu mit Getreide beladeneu Schiffen über Ustjng nach Archangel hinabznfahren . Gern hätte auch Piotrowski dort bis zum Früh - jähr gewartet , aber die Ungeduld ließ ihm keine Ruhe ; er zog weiter .
Inzwischen war allmälig der Frühling herangekommen . Die Schneemassen fingen an zn thanen , die Wege wurden schlechter , das Reisen wurde erst immer beschwerlicher und dann in einem solchen Lande geradezu unmöglich . Naß fallender Schnee durch - näßte die Kleider bis anf die Haut , und bald nachher wurden sie durch den Frost wieder ganz steif .
So erreichte der Mann nach unbeschreiblich mühseligen Tagen Lalsk , das in einer weiten , morastigen Ebene liegt ( — am Flusse Lyza — ) . Dort war gerade Markt , man konnte aber nur Fische kaufen ; das Nachtlager und Abendessen bei einem Müller waren gut , eben so das warme Frühstück vor der Abreise . Nun konnte er , nachdem auch seine Füße wieder heil geworden waren , schnell vorwärts , und im Monat April , gerade vor Beginn der Oster -
Woche , erblickte er von einer Anhöhe herab die noch mit Eis be - deckte Dwina , und am User derselben die wichtige Stadt Weliki Ustjug . Nachdem er noch ein paar Stunden gegangen war , überschritt er das Eis des Stromes und ging in die Stadt , in deren kothigen Gassen er seit Werchotnrje wieder die ersten Sol - daten sah . Er hatte ja die Region europäischer „ Civilisatiou " wieder erreicht , die für ihn manche Gefahren in sich barg . Aber er war nach und nach gegen Gefahren gleichgültig geworden . Vorerst konnte er nicht weiter reisen , denn die Wege waren durchaus unpraktikabel geworden . Das Beste wäre gewesen , in Ustjug zu warten , bis die Dwina eisfrei wurde , und dann auf ihr stromab bis Archangel zn fahren . Als er vor einem Kramladen Grütze kaufen wollte , gerieth er in's Gespräch mit einem Bohomoletz ( Pilger ) , der nach den SolowetzkischenKlöstern wollte , wurde näher mit demselben bekannt und in eine Wallfahrerherberge geführt , wo er Unter - kommen fand . Nachdem Piotrowski , der katholische Pole , einmal die Rolle eines Bohomoletz angenommen hatte , mußte er auch alle religiösen Obliegenheiten eines solchen erfüllen , alle Tage zum Frühgottesdienst gehen , sich russisch bekreuzen , die Vesper besuchen , ein brennendes Licht halten und dem Popen die Hand küssen . Vater Unser und Ave Maria konnte er auf russisch beten , aber das Credo war ihm unbekannt ; zum Glück fragte kein Pope danach . Er ver - richtete alle Ceremonieu pünktlich , besuchte alle Kirchen , verbrachte die heilige Woche mit Gebet und Kniebengungen , wußte aber die Beichte , deren Einzelnheiten ihm unbekannt waren , zu umgehen .
Wir wollen den Flüchtling in Weliki Ustjng verlassen und ihn in einem zweiten und letzten Artikel anf seiner Wasserfahrt nach Archangel und St . Petersburg begleiten .
Neapolitanische
Der Wasserträger Pasqnale Äolpe und Angelina Marucci vom Fischmarkte .
Unter einer Bevölkerung , die von der Civilisation , welche Allem einen gemeinsamen Stempel aufdrückt , nicht gänzlich durch - drangen und überzogen ist , treten auch Originale und Charakter - köpfe hervor . Gerade diese letzteren , bei denen gewisse nationale Eigentümlichkeiten und Licht - wie Schattenseiten gegipfelt sind , geben uns Winke über die Wesenheit des Volkes , dein sie angehören . Auf den ersten Blick gewähren sie oft beinahe den Anblick von Karikaturen , stellen sich aber bei genauerer Betrachtung als Ver - treter der Gefühls - , Denkungs - und Handlungsweise des Volks heraus , desseu Gesammtpulsschlag gewissermaßen in ihnen con - centrirt zu seiu scheint .
Daß es in Neapel an solchen Charakterköpsen nicht fehlt , wird Jeder zugeben , der Gelegenheit hatte , die Neapolitaner näher Zu beobachten . Das Studium dieser Charakterköpfe erscheint aber geradezu nothwendig , wenn man das neapolitanische Volk in seinem ganzen Wesen und Walten kennen lernen und richtig benr - theilen will . Das wird Jeder einräumen , der sich längere Zeit niit ethnographischen Studien beschäftigt hat . Ich will hier einige solcher Charakterfiguren unserer Tage schildern , welche sehr verschiedenen Ständen angehören , und hoffe damit in das neapo - litauische Volksleben einige tiefere Blicke zn eröffnen . Von unten anfangend , will ich zunächst einen sogenannten Cap o d ei Popo - Icuii oder Häuptling des Niedern Volkes in der Person des Signore Pasqnale Volpe vorführen , der ( ich will ihm damit nicht zu sehr schmeicheln ) eine Ader des alten Masaniello in sich hat .
Globus für 1862 . Nr . 27 .
Pasqnale Volpe ist seines Zeichens Wasserträger und besitzt unter allen seinen Standesgenossen einen Einfluß , der so magnetisch wirkt , daß ein Wink von ihm genügt , ein ganzes Volks - quartier in Bewegung zu bringen . Seiue äußere Erscheinung ist allerdings imposant . Eine hohe Gestalt , auf der ein Kopf mit fast regelmäßigen , klassischen Zügen sitzt , umwallt von schwarzem , lockigem Haar , über das die phrygische Mütze recht kühn und ver - wegen gestülpt ist , vor Allem aber eiu schwarzes Augenpaar von seltenem Glänze und ungemein durchdringendem Blick , verleihen ihm ein Etwas , das unwillkürlich auch aus solche , die seine Be - redtsamkeit nicht kennen , Eindruck hervorbringt . Diese Beredt - samkeit Pasquale Volpe's geht freilich für Jeden verloren , der des neapolitanischen Volksdialekts nicht mächtig ist . Wer diesen aber versteht , muß durch die Fülle der Phantasie und durch die groteske Ausdrucksweise dieses eigeuthümlicheu Mannes ans dem Volke überrascht sein .
Ich war einst zugegen , als er seinen Standesgenossen in kurzer , eindringlicher Rede anseinandersetzte , daß Garibaldi von Caprera nach Neapel zurückkehren müsse , wenn Ordnung im Lande werden solle , und erinnere mich daraus noch genau des folgenden Bruchstücks :
„ Die Piemoutefeu " , sagte er , „ mögen sehr ehrliche Leute sein , das ist wahr . Ich sah noch keinen einzigen Piemontesen ein Taschentuch stehlen . Aber haben sie sich nicht bemüht , vor Capua die Ehre und den Ruhm der Südarmee und Garibaldis zu stehlen Warum ließen sie ihn damals nicht nach Rom gehen ^ Warum haben sie eiue Armee uach Neapel geschickt , die sich täglich von uuserm Brote satt ißt , aber die Briganten nicht daran zu