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Julien :
Wendin über ihr schwarzes Trauerkleid schlingt , ist nichts anderes als solch ein Leidschleier allgemeiner , historischer Trauertracht . Es wäre deshalb gut , wenn man einmal nachprüfte , oij die Kunde , dass weisse Trauer eine wendische tümlichkeit sei , nicht zu den liebgewordenen Vorstellungen gehört , die man stören müsste . — Im zweiten Kapitel wird der Versuch gemacht , linien zu zeichnen . Das ist aber eine sehr schwere Sache , da das Material sehr lückenhaft ist ( denn die Volkstrachtenkunde ist etwas spät geboren ) , und da anderseits die grüne Lebendigkeit , die im Wachsen und Vergehen der tracht waltet , der Theorie allzuoft ein Schnippchen schlägt . Die Frage nach den Gründen für das Schwinden der Volkstracht findet Sp . 'nicht so leicht zu worten . ' 'Zum mindesten lässt sich soviel sagen , dass es eine einheitliche Ursache , die überall dieselbe Wirkung gehabt hätte , nicht gibt' ( S . 52 ) . So kann man aber doch nur sprechen , wenn man örtlichen Ursachen und reinen Zufälligkeiten , die hier und da eine Tracht zum Absterben bringen , zu grosse Bedeutung bei - misst . Im letzten Grunde ist doch nur eine Ursache verantwortlich zu machen : der Umstand , dass Deutschland sich aus einem Agrikulturstaat in einen staat verwandelt . Ein Beweis dafür , wie der Einzug der Industrie und ihres Trabanten Verkehr auch zäheste Baüernart wandelt , sind die Betzinger . Zehn Jahre Industrie haben genügt diesem trutzigen , volkskundlich hochinteressanten Völkchen , das durch Jahrhunderte unmittelbar unter den Mauern Reutlingens in Kampf und Fehde seine Eigenart gewahrt , die schöne , individuelle Tracht ziehen1 ) . Sehr schön ist das , was Sp . S . 61 über den praktischen , ästhetischen und ethischen Wert der Tracht sagt , und sehr erfreulich , dass er Trachtenvereine und Trachtenfeste nach ihrer richtigen Wertung einschätzt ( S . V . 62 ) . — Im vierten Kapitel 'Trachtenkunde' wird zunächst 'Methodisches' d . h . die Wichtigkeit einer schaftlichen Erforschung der Volkstracht in ihrer örtlichen Mannigfaltigkeit und geschichtlichen Entwicklung' erörtert . Man kann alles , was darin gesagt wird , unterschreiben und fühlt sich nur versucht , noch etwas hinzuzufügen . 'Eine gehende Beschreibung der heutigen Volkstracht ist also die erste Aufgabe der Trachtenkunde . Man beginnt damit , dass man die einzelnen Orte des gebietes der Reihe nach vornimmt und eine bis ins kleinste Detail genaue schreibung der Tracht liefert' ( S . 65 ) . Diesen Satz möchte man ergänzen : Voraussetzung ist aber , dass derjenige , welcher die einzelnen Orte des Traehtengebietes der Reihe nach vornimmt und die Trachtenbeschreibung liefert , sich zuvor eine liche und zuverlässige Kenntnis der deutschen Trachten überhaupt aneigne ; denn nur , wenn wir die Einzelerscheinung in ihrem Zusammenhang mit dem Ganzen blicken , gewinnt sie ein volkskundliches Interesse . Das geschieht aber nicht nur durch Rückschau und Zeichnen retrospektiver Linien , sondern auch durch Umschau und Zusammenfassen von Gruppen . Diese Gruppen haben mit heutigen politischen Grenzen nichts gemein . Unsere Volkstrachtenkunde krankt an Bücherweisheit und einem Mangel an lebendiger Anschauung . Die Verfasser örtlicher Trachtenwerke graben mit feinem und scharfem Geist in den Schächten der Wissenschaft , aber sie bezeigen unverkennbare Schwerfälligkeit , den grünen Baum lebendiger schauung zu erklimmen . Das Beurteilen von Trachtenstücken nach Abbildungen vom Standpunkt des Forschers kann doch in vielen Fällen nur ein Notbehelf sein , an den man sich hält , wo es sich um historische Trachten handelt , die in natura
1 ) Eine Ausnahme bildet die oberbayerische Tracht , welcher im Gegenteil durch den modernen Verkehr und die Tatsache , dass sie selbst auf die Bergsportkleidung Ein - iluss gewann , neues Leben zufloss . Sie unterscheidet sich aber schon im Prinzip von andern dadurch , dass sie eine bodenständige Pflanze ist .