Dieterich : Die Volksdichtung der Balkanländer .
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Die Volksdichtung der Balkanländer in ihren gemeinsamen Elementen .
Ein Beitrag zur vergleichenden Volkskunde .
Von Karl Dieterich .
Das Gemüts - und Phantasieleben der heutigen Balkanvölker darf in den weitesten Kreisen unserer Gebildeten immer noch als eine terra incognita im vollsten Sinne des Wortes gelten . Zumal die Erkenntnis , dass diese Völker im geschichtlichen wie im geistigen Sinne eine Einheit bilden , ist erst wenigen zum Bewusstsein gekommen und wird zudem noch durch die beständigen politischen Eifersüchteleien jener Völker erschwert . Unter den Deutschen sind es nur einige gelehrte Forscher , die durch ihre Studien auf dieses Gebiet geführt worden sind und seinen hang und dessen Ursache erkannt haben . Es seien nur die Urteile zweier hervorragender Forscher angeführt , die durch ihre Studien auch , dieser Einsicht den Weg gebahnt haben , nachdem schon lange vorher W . Müller auf die Übereinstimmungen zwischen der griechischen und serbischen Volkspoesie aufmerksam gemacht hatte . Der eine , der durch seine gleichenden Forschungen auf dem Gebiete der Balkansprachen diente , leider zu früh dahingegangene Gustav Meyer sagt hierüber , nächst mit Rücksicht auf die Griechen : „ Durch ihre politische und ihre Kulturgeschichte sind die byzantinischen Griechen ebenso wie die heutigen zunächst mit den übrigen im Laufe des Mittelalters auf der Balkanhalbinsel zur Geltung gelangten Völkerschaften und weiter mit den Orientalen zu einer Kultureinheit zusammengeschlossen . " 1 ) Und der Erforscher des geistigen Lebens des Zeitalters , das uns den Schlüssel zum Verständnis dieser Verhältnisse giebt , der Byzantinist Krumbacher , betont gelegentlich der Besprechung eines noch zu nennenden Werkes die Thatsache , „ dass alle Völker der Balkanhalbinsel mit den östlich und westlich vorgelagerten Inseln und einem grossen Teil Kleinasiens in eine grosse Kultureinheit zusammengeschlossen sind , deren historisches Fundament das einstige byzantinische Reich und deren Kitt das orthodoxe Bekenntnis bildet . " 2 )
Noch viel weniger verbreitet als in Deutschland ist diese Erkenntnis aus begreiflichen Gründen bei den Balkanvölkern selbst . Hier scheint nur der bulgarische Ethnolog und Folklorist J . S eh i s clini an o w in Sofia eine rühmliche Ausnahme zu bilden , wenn er ebenfalls spricht von „ der vielfachen Ähnlichkeit der Kultur , in den Sitten und Gebräuchen aller Balkanvölker , die trotz der verschiedenen ethnischen Abstammung in vielen
1 ) Byzantinische Zeitschrift 3 , 396 .
2 ) Byzantinische Zeitschrift 8 , 557 . Zeitschr . d . Vereins f . Volkskunde . 1902 .
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