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Adler und Schütte :
So das Lied . Da nun die Bahn erst am 19 . Dezember 1846 dem Verkehr übergeben ist , so schien es mir nicht unmöglich , den historischen Gehalt des Liedes zu ergründen . Ich wendete mich also zunächst an den Direktor von Schul - pforta , Herrn Prof . Dr . Muff , und seinem liebenswürdigen Entgegenkommen , sowie den freundlichen Bemühungen des Herrn Redakteurs K . Schöppe in Naumburg verdanke ich die erlangte Auskunft . 1 )
Zunächst fand sich weder in den Akten der Staatsanwaltschaft etwas über den Fall — derartige werden nicht so lange aufgehoben , sodann wusste man auch in Pforta nichts von dem Begräbnis . Dagegen gaben Leute , die den Fall erlebt hatten , folgende Kunde : Vor etwa 32 Jahren nahm sich ein junges Mädchen Marie S . . . aus Bergsulza ( Verwandte und Jugendfreundinnen von ihr leben noch ) auf die angegebene Art das Leben . Sie war das Opfer eines Mannes geworden , der ihr verschwiegen hatte , dass er verheiratet war .
Auch den Verfasser des Liedes gelang es ausfindig zu machen . weise ward der Kantor von Sulza genannt . Herr Lehrer Faust in Auerstedt mochte dann aber als Verfasserin eine Bäuerin aus Auerstedt festzustellen , Frau Schlegel .
Wir erhalten also folgenden Vorgang : Die Verzweiflungsthat eines betrogenen Mädchens hat die Gegend erregt , vielleicht um so mehr , als der gewissenlose führer unter den Leuten lebte . Schliesslich fand sich jemand , hier eine Frau aus dem Volke , die die Geschichte nach einer vielgesungenen Weise in Verse brachte . So drang das Lied über den engeren Kreis hinaus und erhielt einen gewissen Nimbus dadurch , dass man sich mit geheimem Gruseln zuraunen konnte : „ Das Lied ist aber wahr . " Je weiter es sich jedoch vom Schauplatz der That entfernte , und je mehr Zeit seit der That verstrich , um so mehr zersetzte sich der Sang' . Gab er anfangs den Tag der That , so ward die Angabe nachher unsicher und an manchen Stellen singt man nur noch „ eines Tages " . War zunächst der Weg der Unglücklichen von Sulza über Kösen in die Pfortaer Gegend genau bestimmt , so schwand der Name von Sulza , an einigen Orten verdrängt durch das später zu nennende Naumburg , anderwärts ohne Ersatz . Kösen hielt sich meist durch seine Stelle im Reim , doch auch dieser Name ward zu „ jedem " missverstanden . Schliesslich drang — wohl aus anderen vielgesungenen Liedein — in Strophe 6 der Name Anna ein , der richtige ist ja Marie . Natürlich traten auch alle anderen Änderungen ein , die mündliche Überlieferung mit sich bringt . Nicht alle Strophen werden überall gesungen , Zeilen werden umgestellt , Worte geändert . So berichtet das Lied von dem Unglück weiter , während die amtlichen Aufzeichnungen stummt sind .
Diesem Liede füge ich aus derselben Quelle ein zweites derselben Art bei , ohne dass ich hier zur Erläuterung - das Geringste hätte thun können .
1 . Ich liab sie treu geliebet 2 Jahr in stille ( r Freud ? 2 ) , Und keine Stund betrübet War ich an ihrer Seit .
2 . Ich ward vou ihr gerissen Zum Dienst fürs Vaterland , Sie schwur mir unter Küssen Treu Lieb' in jedem Land .
3 . Von ihrem schönen Haupte Schnitt sie ein Lockenhaar , Ich trug's an meinem Herzen Ein und ein halbes Jahr .
4 . Doch ach , sie liess sich blenden Trotz Schwur und Druck der Hand , Sie that ihr Herz verschenken ,
Das mir einst zugewandt .
1 ) Beiden Herren möchte ich auch hier meinen herzlichen Dank aussprechen .
2 ) Fehlt in der Niederschrift .