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Meyer :
iti Goethes Leben angehört , in der er zu der volkstümlichen Dichtung die engsten Beziehungen unterhielt , so führt Herrmanns eingehendes Quellenstudium ohne weiteres in interessante Gebiete der Volkskunde ein . Das wirkliche fest ist eine volkstümliche Schaustellung , die stets auf die erregte Teilnahme weiter Volkskreise rechnen kann . Daraus geht dann bald eine Übersetzung dieses bunten Treibens aus dem Markt auf die Bühne hervor ; die Gebildeten sollen — wie bei Goethe — der Anschauung dieses Volkslebens teilhaftig werden , ohne sich selbst mitdrängen und stossen lassen zu müssen . Mit glücklichem Eifer hat Herrmann Bühnenspiele zu diesem Typus aus verschiedenen Litteraturen gesammelt . Und ferner : einzelne Gestalten aus dem Jahrmarktstreiben werden gewissermassen von der Strasse in die Stube heraufgerufen . Die mannigfaltigen „ Ausrufe " werden in einer besonderen Litteratur gesammelt : die stehenden Ankündigungsrufe von Milchmädchen und Kohlenmann — wieder ein von Goethe benutzter volkstümlicher Typus . Endlich lebt aber schon inmitten des Jahrmarktstreibens selbst ein tischer Ansatz : der Guckkastenmann führt gleichsam Ausstattungsstücke , der Schattenspielmann Pantomimen in kleinem Massstabe vor , während neben ihnen das Affentheater die eigentliche Bühne verkleinert wiederholt . ( Ein hübsches Dichterspiel der verdienten Frau Elise Mentzel hat kürzlich den jungen Goethe in der Mitte dieser volkstümlichen Marktscenen dargestellt . ) So entwickeln sich auch , zwischen „ Volk " und „ Gebildeten " schwebend , Volkslieder , die an das treiben symbolisch oder realistisch anknüpfen und ganz direkt auf den Dichter von Plundersweilern gewirkt haben . Eine ganze neue Welt von volkstümlicher Halbkunst wird in Herrmanns Buch uns wie in den kleinen , aber deutlich um - rissenen Bildern des Guckkastenmanns sichtbar , und ein vortreffliches Register stattet uns obendrein , die sonst schnell verschwindenden Schattenrisse festzuhalten und wieder aufzufinden . Auch geschickt ausgewählte Bilder verdeutlichen , was Goethe vorfand ; scheinen doch auch die typischen Darstellungen der bildenden Kunst auf die Figuren seines Jahrmarktsfestes gewirkt zu haben . So erhalten auch die Freunde der Volkskunde reiche Belehrung aus diesem wichtigen Beitrag zur „ Goethe - Philologie " , dem nicht unverdient das Glück zu teil ward , noch gedruckte Couplets von Goethe bringen zu dürfen !
Berlin . Richard M . Meyer .
Oskar Kallas , Achtzig Märchen der Ljutziner Esten , gesammelt . ( handlungen der Gelehrten Estnischen Gesellschaft . 20 . Bd . , 2 . Heft . )
Jurjew ( Dorp at ) , Schnakenburg 1 . 900 . ( Leipzig , K . F . Koehler ) . S . 83—405 . 8° .
Im russischen Gouvernement Witebsk nahe bei der Stadt Ljutzin leben mitten in die lettische Bevölkerung eingesprengt einige Tausend katholischer Esten , deren interessante Kultur , Bräuche , Lieder , Rätsel und Märchen 0 . Kallas 1893 im trage der finnischen Litteraturgesellschaft genauer erforscht hat . Nach ihren eigenen Überlieferungen sind ihre Vorväter „ vor 4—6 Geschlechtern " aus dem „ Lande der Schweden " infolge der Drangsale der Leibeigenschaft und des Krieges nach Polen ausgewandert , ein Ereignis , das in der zweiten Hälfte des 17 . Jahrh . stattgefunden haben muss , da Livland 1710 russisch wurde . Ihr lutherisches Bekenntnis haben sie in der Fremde mit dem katholischen vertauscht ; auch ist ihnen das Bewusst - sein , dass es ausser ihnen noch andere estnisch redende Stammesgenossen gebe , abhanden gekommen . Mit Staunen und Freude wurden daher die estnischen