Volkstümliche Schlaglichter.
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auch wieder seine Grenze. Wenn das Leben über ein einmaliges Vor¬
kommen der Sache in aller Stille gleichsam zur Tagesordnung übergeht,
so würde es auch in jenen Kreisen, falls es vor Zeugen oder gar öfter
geschähe, als ein Zeichen von Rohheit selbst durch die öffentliche Meinuhg
gemissbilligt werden.
Das Volkstum hat ebenso seine eigenen Begriffe von Anstand und
von dem was sich schickt. Zwei charakteristische Beispiele davon
mögen hier ihre Stelle finden.
Mein Vater starb auf dem Lande, im Forsthaus Dreilinden, welches damals
einer seiner Freunde, der Schiffahrtsinspektor Bensch, später der Prinz
Friedrich Karl besass. Meine Mutter gab einem alten Tagelöhner, der
dort arbeitete, verschiedene Kleidungsstücke des Verstorbenen. Als richtiger
Bauer, der so leicht nichts verschenkt, dachte jener zuerst, er solle sie
kaufen! Als ihm klar gemacht wurde, sie würden ihm geschenkt, er solle
sie nur nehmen, packte er schliesslich alles zusammen und sagte: „Na
dann danke ich schön fürs Erste". Wir lachtön im Stillen über die
Schlussworte, aber wir erfuhren bald, was dahinter steckte. Nächsten
Sonntag erschien der Mann nämlich in seinem Sonntagsrock mit einem
Topf in der Hand. Auf die Frage, was er wolle, meinte er, die schönen
Kleider könne er doch so nicht annehmen. Er hätte gerade Honig ge¬
erntet und brächte einen Topf davon. Es wäre zwar wenig, aber er bäte
recht sehr, es ihm nicht abzuschlagen.
Das war der gesunde Stolz des Arbeiters, der sich bewusst war, wie
nur die Arbeit ihren Lohn verdiene und in dem Gefühl, so immer an¬
ständig durch die Welt gekommen zu sein, nichts, namentlich von Fremden,
geschenkt nehmen wollte.
Von einem fast zarten Taktgefühl zeugt eine andere Geschichte, die
ich mit erlebt habe. Ein alter Heizer in einem grossem Etablissement
sollte mit seiner Frau als Anerkennung langjähriger Dienste die bequeme
und einträgliche Stelle eines Hausmanns erhalten. Zum Erstaunen seines
Chefs lehnte er ab, indem er meinte, er und seine Frau wären dazu zu
alt und blieb hartnäckig dabei. Später kam durch Zufall der eigentliche
Grund heraus. Es war das Reinigen der Bureauzimmer mit der Stelle
verbunden, und da hatte er dieselbe nicht angenommen, weil er, so tüchtig
seine Frau sonst war, ihr nach anderen Vorkommnissen nicht zutraute, sie
sicher über fremde Sachen schicken zu können. Der Mann hatte es nicht
bloss seine Frau nicht entgelten lassen, dass er ihrethalben der vorteil¬
haften Stelle entsagen musste, er hatte es auch für anständig gehalten,
lieber selbst als eigensinnig zu gelten, als durch Angabe des wahren Grundès
die Ehre seiner Frau preiszugeben. Der Mann machte sonst den Eindruck
eines Töffels, in dem Punkte aber war er ein Ehrenmann.
Neben solchen Zügen einer gehobenen ethischen Gesinnung treten
dann wieder andere, in denen die materiellen Verhältnisse eine Denkungs-
Zeitschrift d. Vereins f. Volkskunde. 1891. 3