Der Platonismus Michelangelos .
Von Victor Kaiser .
III . Michelangelos Mediceer .
Seit einem Jahrzehnt hatte bereits Michelangelo in seinem großen Gemäldecyklus der sistinischen Gapelle zu Rom als Maler den Gipfelpunkt seines Ruhmes erstiegen , als ihm der Mediceer - Papst Leo X . den Auftrag erteilte , zu Ehren der letzten legitimen Sprösslinge seines erlauchten vom alten Cosimo gegründeten Hauses , seines Bruders Giuliano und seines Neffen Lorenzo in ihrer Vaterstadt Florenz eine Grabcapelle zu richten und mit einem plastischen Bilderkreise zu schmücken . Im Gebiete der Bildnerei wollte nun Michelangelo , wie es überhaupt seiner Sinnesweise entsprach1 — sich selbst übertreffen ; denn sie schätzte er am höchsten unter den bildenden Künsten , ihr legte er in seiner dichterischen schauung2 vorzugsweise den göttlichen Beruf des Künstlers bei , mit derselben Gewalt seines wuchtigen Hammers die lebendige Idee des Bildwerks aus der rohen Umhüllung des Marmor blocks zu befreien , wie der platonische Weltbildner die ewigen Ideen in der widerstrebenden Materie nachbildet und darnach den harmonischen Bau des Weltalls gestaltet .
Die von ihm selbst entworfene architektonische Anlage und Gliederung der mediceischen Grabcapelle von San renzo machte demnach Michelangelo ganz seinem bildnerischen Hauptzwecke dienstbar : unter der hohen Kappel gleitet ein reicher , ungebrochener Lichtstrom auf die Marmorgruppen hernieder , erweckt hier das harmonische Spiel der feinsten
1 Michelangelo , Rime , ed . Ges . Guasti 1863 . Madr . 81 .
2 A . a . 0 . Madr . 12 .
Zeitschrift für Völkerpsych . und Spracliw . Bd . XVI . 3 . 14