Volksthum und Heerwesen
von
Max Jahns .
Die Uebertragnng der inductiven Methode der Naturforschung auf das Gebiet der historischen Studien hat die Völker - Psychologie , d . h . das bewußte Streben nach Kenntniß vom Werden und Leben eines Volksthums , zum Range einer selbst - ständigen und vielumfassenden Wissenschaft erhoben . Unendlich reichhaltig an Art und Zahl find die Kriterien , mit welchen diese Wissenschaft arbeitet . — Die Race - Eigentümlichkeit eines Stammes , die klimatischen und territorialen Bedingnisse seines Wohngebiets , seine Stellung in der Weltgeschichte , sowie sein Zusammenhang mit anderen Völkern , seiner Sprache Ursprung und Genius , seine Vorstellungen und Mythen von der Gottheit , seine wissenschaftliche Forschung , wie seiner Kunst und Poesie Gestaltungen , seine Rechtsordnungen und Verwaltungsformen , die Erzeugnisse seines Gewerbfleißes , Art und Ausbreitung seines Handels — alles das wird der Völkerkunde zum Mittel , den Charakter einer Nation zu bestimmen .
Unter all' den genannten Kennzeichen aber ist kaum eins von so entscheidender und umfassender Bedeutung als die Ent - Wicklung des Heerwesens , die Gestaltung der Kriegs - Verfassung eines Volks . Herausgeboren aus seinem innersten Genius , fundamental und maßgebend bedingt von Landesart und Landeslage , bringt die Wehrverfassung jene breitesten und beständigsten Grundlagen eines Volksthums zu großartigem und vollgültigem Ausdruck . Aber das Heerwesen ist zugleich auch das vorzüglichste Mittel für die geschichtlichen Lebens - Äußerungen eines Volkes und das vornehmste Werkzeug , wenn Nationen sich entgegentreten und aneinander messen wollen . Und daher erscheinen die Formen der Heeresorganisation in
Zeitschr . für Völkeipsych . u . Sprachw . Bd . VII . 15