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Steinthal
des österreichischen Land - Adels im Uebergange vom 12 . zum 13 . Jahrhundert , sie sind es noch oder waren es wenigstens noch bis vor kurzem unter den Bauern Finnlands , Serbiens , Nußlands . Allerdings ist der ungebildete Sänger , der Volks - dichter , in Gefahr , in Rohheit zu versinken , wie der Kunst - dichter leicht ein künstlicher , reflectirter Dichter wird .
Das nncnltivirte Bewußtsein aber zweitens ist ohne Jndivi - dualität : dies ist die unmittelbare Folge des erstgenannten Merk - mals ; denn Individualität ist durchaus erst das Erzeugniß der Cultur . Ohne diese fehlt die Mannichsaltigkeit der Verhältnisse , welche eine mannichsache Gestaltung des Bewußtseins gestattete . Ohne Cultur ist die Erziehung der Geister gleichförmig , sind die Eindrücke und Anregungen , welche der Einzelne empfängt , bei jedem dieselben . Es wird nicht eigentlich unterrichtet und gelehrt , sondern es wird nur gelebt , und im Leben uud durch dasselbe eignet sich jeder unbewußt und ungewollt , ohne Schule uud besondere Veranstaltung , und also ohne Bewußtsein den Schatz von Ideen an , der in geweiheter Sitte und Gewohn - heit , in Thätigkeit , in Sprache , Sprichwort und Lied ausge - prägt ist . Wie sollte hier Individualität erstehen ? Der ganze Geist ist substantiell und objectivirt ohne Subjectivität . An dieser geistigen Substanz mag der Eine mehr , der Andere ge - ringern Antheil haben — Niemand hat etwas ihm Eigenthüm - liches , etwas was nicht dem Gesammtgeiste gehörte .
Herrscht nun drittens in einer solchen Gemeinsamkeit , einer solchen Gemeinde von Rittern oder Bauern oder städtischen Bürgern oder Bettlern , poetische Begabung , so hat jeder Ein - zelne Theil an derselben , jeder ist Dichter , und der Eine dichtet wie der Andre . Hierüber ist schon vielfach von Andern schön gesprochen worden . Ich erinnere nur an das Nächste , an die Bemerkungen unseres geehrten Mitarbeiters Adolf Tobler im vorigen Bande dieser Zeitschrift S . 143 . 149 . 154 und besonders 156 ff . 160 . Die Dichtung gehört dem Gesammtgeiste , in welchem jeder Einzelne lebt . So wie er Mitglied dieser Ge - meinschaft ist , so hat er Theil an solchem Leben , so treibt er solches Geschäft , und so dichtet er auch in solcher Weise mit allen Andern . Wie sie alle an ihrer Sprache , ihrer Sage ,