Das Epos ,
3
Letzteres , behaupteich , wie Viele vor mir behauptet haben : ob - wohl es noch Mancher leugnet .
Ich sage also : es gibt eine Volksdichtung ; das Volk hat gedichtet ; das Volk ist Dichter . Es kommt darauf an , die hier - mit ausgesprochene Thatsache darzulegen . Wie kann ein Volk ein Gedicht machen ?
Volk ist ein vieldeutiges Wort . Rede ich von Volksdich - tuug , so verstehe ich unter Volk : dasjenige Bewußtsein einer Gemeinde ( oder geistig gleichartigen Vielheit von Menschen ) , welches noch vor der Cnltnr oder wenigstens außerhalb der - selben liegt . Den Gegensatz dazu bildet also die Kunstdichtung , d . h . die Dichtung des selbstbewußten , cnltivirten Geistes . So kann man die Volksdichtung auch Naturdichtung nennen . — Man lasse sich diese ( vielleicht Vielen unerwartete ) psychologische Definition einstweilen gefallen und nehme noch folgende Be - stimmungen hinzu .
Erstlich : das Grundmerkmal des Begriffes der Volksdich - tuug ist der Mangel an Verstandesbildung . Es kann zu einer bestimmten Zeit das Bewußtsein einer gesammten Nation cul - turlos , d . h . von Logik , Reflexion , Schriftgelehrsamkeit noch un - berührt sein . So war es das der Hellenen in der homerischen Zeit . Es kann aber auch innerhalb einer Nation ein Theil , ein Stand , schon von der Cultur vollständig ergriffen sein , wäh - rend die größere Masse desselben es noch nicht ist : so war es bei den europäischen Nationen des Mittelalters , so ist es im östlichen Europa heute noch . Italien aber zeigt uns , wie durch Jahrhunderte neben der höchsten Cultur in den Städten abseits derselben , in den Gebirgen , sich ein völlig eulturloser Zustand erhalten konnte .
Daß zur vollsten und reinsten Dichterkraft nicht logische Politur der Begriffe nöthig ist , wird anerkannt ; poetische Be - gabung bei edelem Gemüthe , bei ungetrübtem sittlichen Bewußt - sein , bei Geschmack , d . h . natürlichem Sinne für Ebenmaß und Einklang reicht ohne Cultur aus , die vollendet schöne Dichtung zu schaffen . Diese Bedingungen können sich in jedem Stande oder bei jeder Beschäftigung einer Nation finden ; sie waren vorhanden unter den Edeln der ältesten Hellenen , den Rittern