Jens Watolla
zellschaftliche Alltag des Iran der Siebziger
Jahre in das Bewußtsein von Amir.
„Jederzeit,“ sagt er, „war es mir möglich,
Buchdeckel wieder zu schließen, zu keinem
Zeitpunkt aber konnte ich mich den Me-
thoden der islamischen Theokratie in der
Gesellschaft öffnen.“
Zur Veranschaulichung der gesellschaft-
lichen Praxis im Iran zeigt Amir mir ein
Foto aus einem Magazin, welches er sich
von den „Reporters sans Frontieres“ in
Berlin hat zusenden lassen:
In der Größe eines Bogen Papiers, er-
kenne ich — dezentriert, scharf: die Weite
einer Straßenszene. Eine Straßenkreuzung,
einen Basar. Viele Menschen, einige, die
vorn sind, erkenne ich etwas deutlicher, die
anderen als Bestandteil der Menge. Viele
sind aber noch gut mit Gesichtern, mit ih-
ren Blicken zu erkennen. Markttreiben.
Leben auf der Straße einer größeren Stadt
des Iran. Die Menschen gehen ihren Ge-
schäften nach: Gemüse kaufen, ihren Wa-
gen beladen, in der Enge sich an anderen
vorbeischlängeln oder sie unterhalten sich
sinfach nur. Kaum einer guckt zum Foto-
zrafen. Kaum einer hat ihn bemerkt. Der
Blick dieser Menschen bleibt auf ihrer eige-
nen Augenhöhe — unterhalb der des Foto-
grafen, Was ist so Besonderes daran? Daß
kaum einer den Fotografen im Moment des
Aufnehmens bemerkt hat? Nein. Mich be-
fremdet, daß niemand, zumindest niemand
mit einem bewegten Gesichtsausdruck, in
die andere Richtung schaut: Zu dem, was
ich dort links im Bild, oberhalb der Men-
ge, nun endlich erkannt habe, schaut nie-
mand hoch (oder wenn er es eben schon
getan haben sollte, so scheint es, ist er längst
schon wieder mit seinen Gedanken im All-
tag): niemand schaut hoch zu den dreien
dort, die an Galgen hängen. „Nicht jeden
Tag ist das so, aber nicht ungewöhnlich für
die Leute“, kommentiert Amir das Bild.
Soweit zu seinen (Erinnerungs-)Bildern
und eigenen Vorstellungen von seinem Ge-
burtsland, welches er im Frühjahr 1980
verließ. Knapp zwanzig Jahre alt, knapp
ein Jahr nach der Revolution.
„(...) und bleibe schon bei der
Sprache allein“— ein Migrantenalltag
in Berlin
Von Berlin wußte Amir genauso wenig wie
von den indischen oder amerikanischen
Universitätsstädten, für die es Stipendien
gab.
‚Viele gingen nach Amerika. Einige woll-
ten nach Indien, weil es näher war. Ich
kann nicht wirklich sagen, weshalb ich
mich für Berlin entschieden habe.“ Und:
„Nach einem Jahr Deutsch-Intensivkurs
schrieb ich mich für Chemie ein. Mein Che-
mielehrer hatte Chemie so lebhaft vermit-
velt, daß ich mich begeisterte“, erinnert sich
Amir.
16 Jahre nach diesem Zeitpunkt, im April
1996 lerne ich Amir als studentischen Vor-
ırbeiter auf dem Bau kennen. Hier vermit-
;elte er zwischen Studenten und Arbeitern.
Er strahlte eine Art von Loyalität aus, die
mir sowohl Respekt als auch eine gewisse
Vorsicht abverlangte. Ich fragte mich da-
mals nicht, wie er zurechtkommt, mir fiel
ıur auf, in welchem Maße er die schwere,
‘ür einen Akademiker doch eigentlich un-
befriedigende Arbeit durch unablässiges
Erzählen überbrückte. Für mich ein „Ori-
entalischer Märchenerzähler“, der trotz
Grammatikfehlern seinen verworrenen Be-
richten, Witzen und Geschichten eine er-
staunliche Lebendigkeit verleihen konnte.
Einen wichtigen Indikator bei der Be-
trachtung des Grades seiner Integriertheit
und seines Verständnisses nationaler Iden-
tifizierung stellt bei Amir die Sprache dar.
Sie bietet ihm einerseits die Möglichkeit,
sine soziale Identität aufzubauen, durch
die er auch private Anerkennung erfährt:
„Jetzt (nach so langer Zeit in Deutschland,
d.Vf.) kann ich mich gefühlsmäßig viel bes-
ser ausdrücken (...) Ich werde auch viel bes-
ser akzeptiert. Wenn ich zum Beispiel Fern-
sehn gucke und es ist ein Interview mit ei-