Einleitung
Von Irene Götz
In den letzten zehn Jahren gerät der Natio-
nalstaat alter Prägung zunehmend in die
Diskussion. In den öffentlichen Debatten
wird immer wieder darauf verwiesen, daß
sich im Prozeß der Globalisierung und ins-
besondere der Europäischen Einigung die
moderne Nation ın ihrer bisherigen Form
auflösen und der Nationalstaat in Europa
seine politische und dann auch seine
identitätsstiftende kulturelle Bedeutung
verlieren werde. Die Vorstellung einer kul-
turellen Homogenität', auf der die her-
kömmlichen Nationalstaats- und. Identi-
tätskonzepte bislang im wesentlichen
aufbauen, gerät in Folge der verstärkten
Deterritorialisierungen und weltweiten
Wanderungsbewegungen in die Kritik. Es
ist geradezu als eine Gegenbewegung gegen
die lange Zeit vermittelten „geschlosse-
nen“, festen nationalen Identitätsvor-
stellungen zu verstehen, wenn die Sozial-
und Kulturwissenschaften neue Erklä-
rungs- und Interpretationsansätze für
[dentitätsbildungsprozesse im postnatio-
nalen Zeitalter suchen. Diese aktuellen
Diskurse brachten in den letzten Jahren
verschiedene neue Begriffe und Konzepte
hervor. Sie reichen von Versuchen, neue,
postnationale Identitätskonstruktionen aus-
zumachen bis zu der Forderung nach voll-
ständigem Verzicht auf Begriffe wie kol-
lektive und nationale Identität?,
Als neue Identitätskonstruktionen werden
zum Beispiel „hybride“ Identitäten? —
Mischidentitäten - und sogenannte „orts-
polygame“ Lebensformen* beschrieben. Es
wird angenommen, daß die bisherigen, als
zentriert und homogen gedachten Identitä-
ten durch Konzepte von einem „Selbst“
abgelöst werden, das zunehmend von kul-
xureller Heterogenität, interkulturellem.Aus-
sausch und Grenzüberschreitung beein-
lußt wird.
Während ein Teil der Eliten mit dem
objektiven Bedeutungsverlust des Natio-
nalstaats also zugleich auch das Ende seiner
subjektiven identitätsstiftenden Bedeutung
und alltagspraktischen Funktion für die
Vielen kommen sieht (oder jedenfalls her-
beiwünscht und herbeischreibt), gehen an-
dere davon aus, daß der Nationalstaat —
trotz Migrationsbewegungen oder u.a.
auch gerade deswegen? — keinesfalls tot sei,
weil die Menschen an ihm hängen. Sie sei-
an z.B. nicht bereit, die modernen nationa-
len Rechte und Leistungen, die sie als Bür-
zer eines dieser nationalen Sozial- und
„Vorsorgestaaten“ besitzen, ohne weiteres,
zumal in ökonomischen Krisenzeiten, mit
Einwanderern, mit den „Fremden“, zu tei-
len oder an ein anonymes, erfahrungsfernes
Europa abzugeben.®
Auch das folgend vorgestellte Studien-
projekt’ ist im Kontext dieser Debatten an-
zesiedelt, wurde durch sie motiviert und
nspiriert. Es hatte zum Ziel, „nationale
Selbst- und Fremdbilder“ — subjektive
[dentitätskonzepte von Deutschen‘ — in
Form von biographischen Tiefeninterviews
zu erforschen. Zweiphasige Interviews*
sollten als Mikrostudien vertiefte und dif-
ferenzierte Erkenntnisse darüber hervor-
bringen, wie sich lebensweltliche und bio-
zraphische Erfahrungen, eigene Werturtei-
je und im Sozialisationsprozeß erworbene
Überzeugungen mit tradierten Vorstellun-
gen über das Deutschsein einerseits und