Alexandra Claus
eis bewegt und das durchwoben ist von
Tabuisierungen.
Aus diesen Gründen wollte ich nieman-
den meiner Generation und meines sozia-
len Umfeldes interviewen. Ich erwartete,
daß ihre Einstellung zur Nation wahr
scheinlich eher in einer Identifikationsver-
weigerung läge und das Bemühen, politisch
korrekte Aussagen zu treffen, überwiege”.
Diese Schwierigkeit im Umgang mit dem
Begriff Nation in Deutschland liegt offen
zu Tage, liefert die jüngere Geschichte
Deutschlands doch kaum Anlaß zu positi-
ver Identifizierung”,
Ein Burschenschaftler schien mir da
spontan als ein geeigneter Gesprächspart-
ner, ich vermutete hier eine andere Positio-
nierung zu dem Begriff Nation: einen un-
gebrocheneren Nationenbegriff, der mit
positiven Bildern und Emotionen verbun-
den ist und somit auch eine identitätsstif-
tende Funktion einnimmt. Darüber hinaus
interessierte mich die biographische Erzäh-
lung eines Zeitzeugen, der gesamtgesell-
schaftliche Brüche sowie Umdeutungen
von Geschichte, Nation und kollektiver
[dentität in der deutschen Vergangenheit
am eigenen Leib erfahren hat. Mich inter-
essierte, wie diese Zusammenhänge in eine
persönliche Erzählung eingebaut werden,
ob die eigenen Deutungen sich verändern,
Und wenn ja, wie dies erlebt wird und ob
sich daraus Handlungskonsequenzen erge-
ben.
Kassel-Wilhelmshöhe, wir bewegen uns
weiter durch die deutsche Landschaft. Er
fragt mich, was ich in Berlin so mache. Ich
merke, daß ich mal wieder mehr schlecht
als recht die Inhalte meines Faches erklären
kann: Europäische Ethnologie. ja Ethnolo-
gie schon ... aber wir ... nein, Europa ei-
gentlich auch nicht direkt ... eher so sozia:
le Lebenswelt, Alltag, kulturelle Prozesse
„. irgendwas in der Art! Und dann ein
Schachzug meinerseits: „Zch mache gerade
eine Forschung zu nationaler Identität“,
sage ich, und wenn er das genauer wissen
wolle, was wir so erforschen. würde ich
mich freuen, wenn er ein Interview mit mir
machen würde. Angebissen! Findet er
spannend, sagt er, und er hätte ja nicht ge-
dacht, daß er noch einmal interessant wer-
den würde für eine Ethnologin. Im nach-
hinein überlege ich mir, wie er das wohl
gemeint hat?
Eine Rede zur Nation
Herr Weining ist 1928 geboren, er war so-
mit als 16jähriger noch bei der Flak — ich
erinnere mich an die Geschichten meines
Vaters - er gehört zu einer Generation, die
ihre Sozialisation im Nationalsozialismus
erfahren haben, dann als 14- bis 18jährige
kurz vor Kriegsende noch eingezogen wur-
den, meist an die Flak kamen, und zum
großen Teil in Kriegsgefangenschaft gerie-
ten: die sogenannte Flakhelfergeneration.
Aus ihnen rekrutiert sich ein guter Teil der
westdeutschen Aufsteiger, die für den
‚Wiederaufbau‘ der Bundesrepublik stan-
len, für das „Modell Deutschland“.
‚Mein Feld‘ hat mich hier anscheinend ziel-
strebig gefunden. Das Stichwort ist gefal-
'en, Nation genügt als Erzählimpuls und
mein Reisebegleiter entwickelt zahlreiche
Assoziationen,
Vor nicht allzu langer Zeit, beginnt Herr
Weining, habe er selbst eine Rede zur Na-
tion und der Geschichte des Begriffs gehal-
ten. Anlaß gab die Neugründung eines
Verbandes seiner Burschenschaft in einer
ostdeutschen Kleinstadt:
„Na, ich hab‘ das Thema genommen
‚Nationalismus in Europa‘ und hab‘ das so
aufgebaut, daß ich gesagt habe, der Natio-
nalismus in Europa ist an sich ein illegitimes
Kind der Fraternite der Französischen Re-
volution. “38
Ich schaue fragend, weiß nicht ganz, wie
ıch das verstehen soll, frage nach. Darauf-
hin bekomme ich einen kurzen Abriß der
deutschen Nationsgründung aus einer bur-
schenschaftlichen Blickrichtung und den
Traditionen, in denen sie sich sehen. Mir
wird kurz bewußt. daß ich mich auf unsi-