Kerstin Pietsch
„(...) und mein Vater im Nachhinein sach-
te, daß er stolz auf mich is’. Daß er das sel-
ber für sich so nicht auf die Beine stellen
konnte, waren auch andere Zeiten und so.
Aber das er eben det janz toll findet, daß
ick det halt mache (...) und aus eigener In-
itiative heraus, ohne daß mich jemand so
auf diese Idee jebracht hätte. Weil aus sei-
nem Haus, hat er ja jemerkt, kamen eben
solche Ideen nich”. Also wir waren schon
gutbürgerlich, wie it immer so schön
heißt. “117
Diese Reise verkörpert einen Einschnitt
für beide Seiten. Die Eltern fragten sich be-
sorgt, warum die Tochter ihr Arbeitsver-
hältnis unterbricht, um vier Monate in der
Türkei zu leben. Bei Martina steht sie für
das Verlassen vorgegebener Bahnen hin zu
dem, was Keupp als Individualisierung und
Pluralisierung von Lebensformen kenn-
zeichnet: „(...) weg vom Schicksal, hin zur
freien Entscheidung. “!® Denn „solche Au-
ßergewöhnlichkeiten kamen bei uns in der
Familie nicht vor, bis dato.“
Ihr Vorhaben letztlich umzusetzen, for-
derte Martina viel Überzeugungsarbeit und
Durchsetzungsvermögen ab, besonders ge-
genüber ihren Eltern. Diese Anstrengun-
gen sind hier als eine Lösung von elterlich
vorgegebenen Lebensmustern und als
Durchsetzung der eigenen Individualität
zu beurteilen. Denn »Individualisierung
bedeutet zunächst einmal die Freisetzung
aus Traditionen und Bindungen (...). Die
einzelne Person wird zur Steuerungsein-
aeit, und die Begründung ihres Handelns
muß ihr sinnvoll und vernünftig erscheinen
und darf sich nicht allein auf das ‚man‘ tra-
ditioneller Normierungen berufen.“!"9
Auch in anderen Lebensbereichen erlebt
sie sich als völlig verschieden von dem, was
ihr das Elternhaus vorlebt und meint: „ Zch
hab’ da völlig unabhängig von meinen El-
tern ‘nen völlig anderen Stil entwickelt.“
Sie versucht, für sich eine Lebensweise zu
realisieren, die sich von den Wertvorstel-
jungen des Elternhauses deutlich absetzt.
‚Die Zugehörigkeit zu Milieus ist kein un-
abänderliches Schicksal. Ich kann mir einen
Rahmen suchen, in den ich mit meinem So-
sein hineinpasse. “120
Trotz der anfänglichen Schwierigkeiten
wurde die Reise schließlich realisiert. Mar-
tina reiste zunächst einfach drauf los.
„[Ich] hatte da auch meine Unterkunft,
Auskommen mit den Ersparnissen, die ich
von hier hatte. (...) Und hab’ da abseits des
Tourismus [gewohnt].“ Martina lebte in
einem Dorf und arbeitete sporadisch an ei-
ner Tauchschule, um eigene Tauchgänge fi-
nanzieren zu können. Dort hatte sie zwar
Kontakt zu Touristen, aber darüber hinaus
vermied sie diesen strikt:
„Also den Kontakt zu Touristen hab’ ich
zuch bewußt jemieden, weil ick dit nich
wollte. [Ich] hab’ mich mit der türkischen
Sprache bewußt auseinandergesetzt. Die
türkischen Bewohner sind mir halt entge-
gengekommen, daß sie mich immer auf
englisch anjesprochen haben, weil ich ja
deutlich “ne Touristin war.“
Mit der einheimischen Bevölkerung in
Kontakt zu treten, sich von den ‘anderen
Touristen’ zu distanzieren, kennzeichnete
das Verhaltensmuster während ihres Auf-
anthaltes. Unverkennbar ist die Attitüde
des Individualreisenden zu erkennen.!?! So
'atte sie schon im Vorfeld zahlreiche An-
strengungen unternommen, um diesem
Bild von sich selbst und den damit verbun-
denen Erwartungen gerecht werden zu
<önnen. Dazu gehörte, daß sie in Deutsch-
and begann, die Sprache zu erlernen. „ All
diese Strategien laufen auf ein Ziel hinaus:
auf die Ablehnung der Touristenrol-
e.(...) “2 Bei Martina ist dies ganz deutlich
ın ihrer Einstellung und ihrem Verhalten
zu erkennen, Sie hatte direkten Kontakt
zur Bevölkerung, lebte in einer dörflichen
Gemeinschaft. Dort war sie zunächst den-
noch eine Touristin, eine Fremde, die eine
gewisse Zeit lang dort lebte. Diesen Status
versuchte sie abzustreifen, soweit dies
überhaupt möglich war. In jedem Fall si-
znalisierte sie eine hohe Bereitschaft, sich
ın das dörfliche Leben integrieren zu wol-
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