Zur Geschichte der sorbischen Volksforschung
Paul Nowotny
Nun bin ich achtzig geworden. Da ist es
wohl an der Zeit, Bilanz zu ziehen, zumal
man noch dazu gedrängt wird. Ein Viertel-
jahrhundert lang, von 1951 bis Ende 1976,
habe ich das Institut für sorbische Volks-
forschung in Bautzen geleitet. Umbruch
und Neubeginn werfen heute neue und bis-
her nie gestellte Fragen auf. Die Generati-
on, die jetzt Gegenwart und Zukunft ge-
stalten muss, verlangt Klarheit über das
Vergangene für eigene Urteilsfindung und
Entscheidung. Mein Erinnern will dazu
beitragen, obwohl ich mir seiner Unzu-
‚nglichkeit und Lückenhaftigkeit bewußt
in.
_ Am Dreikönigstag, den 6. Januar 1912,
in Bautzen in einer sorbischen Arbeiterfa-
milie geboren, wuchs ich im deutsch-sorbi-
schen Spannungsfeld zweisprachig auf.
Schon als Oberschüler schloss ich mich
sorbischen Schülervereinigungen und Or-
ganisationen an. Die aktive Mitwirkung in
Ihnen festigte mein sorbisches Nationalbe-
wußtsein. Wanderungen in Polen und in
der Tschechoslowakei stillten nicht nur
mein Fernweh, sondern weiteten mein na-
tionales Selbstverständnis im Sinne der sla-
wischen Solidarität, die mir angesichts des
erstarkenden Nationalsozialismus einen
politisch-moralischen Rückhalt bot. Mein
Sorbentum fügte sich konfliktlos in meine
von der deutschen Kultur geprägte Schul-
bildung. Als ich 1931 das Lehrerstudium
am Pädagogischen Institut der Technischen
Hochschule in Dresden aufnahm, studier-
te ich Volkskunde bei Adolf Spamer, Rus-
sisch bei Leonhardi und Sorbisch bei dem
greisen Komponisten Bjarnat Krawc-
Schneider in der sorbischen Studentenver-
einigung.
Nach der Machtergreifung durch die Fa-
schisten 1933 erschien auch mein Name am
„Schandpfahl“ vor dem Hauptgebäude der
TH in Dresden, wo ich als „gefeierter
Polenfreund“ angeprangert wurde. Rele-
gierung, Studienverbot in Deutschland und
Emigration nach Polen waren die Folge.
Während des Universitätsstudiums in
Poznan (Posen) hörte ich auch Vorlesun-
gen über Slawistik und Ethnologie (Prof.
Frankowski) und nahm 1934 und 1935 an
archäologischen Ausgrabungen in
Biskupin unter Leitung von Prof.
Kostrzewski teil. Nach Erlangung des Ma-
gisterdiploms 1937 arbeitete ich bis Kriegs-
ausbruch 1939 als Deutschlehrer am polni-
schen Gymnasium in Danzig. Verhaftung,
Konzentrationslager, Gestapogefängnis
und Untertauchen bei Verwandten meiner
Frau im damaligen Warthegau wechselten
einander ab, bis ich Ende 1941 für den
Kriegsdienst geeignet erschien. 1947 aus
französischer Kriegsgefangenschaft entlas-
sen, kehrte ich Ende Mai 1947 nach
vierzehnjähriger Abwesenheit nach Baut-
zen zurück.
Auf eine antifaschistisch-demokratische
Entwicklung in der sowjetischen Besat-
zungszone hoffend, stürzte ich mich blind
vertrauend in den Aufbau des sorbischen
Bildungs- und Schulwesens, war zuerst Se-
kretär der Domowina und von 1948 bis
1951 Schulrat des Kreises Bautzen-Nord.,
Es waren Jahre, die ich als Jahre der Wie-
dergutmachung gegenüber den Sorben für
erlittenes Unrecht während der Naziherr-
schaft bezeichnen möchte. Einen Höhe-
punkt bildete das 1948 von der sächsischen
Landesregierung erlassene „Gesetz zur
Wahrung der Rechte der sorbischen Bevöl-