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Volltext: Zehn Jahre Gesellschaft für Ethnographie - Europäische Ethnologie in Berlin

Zur Situation der Volkskunde an den ostdeutschen Universitäten 
DDR hatte sich dagegen eine feste institu- 
tionelle Anbindung des Faches an die Ge- 
schichte durchgesetzt, und zwar sowohl an 
der Akademie als auch an der Universität.’ 
Eine Besonderheit war, dass an der Univer- 
sität die Inhalte des Faches in enger Ver- 
bindung zur Völkerkunde gelehrt und ge- 
lernt wurden, was in dieser Form im We- 
sten trotz großer Sympathien für die 
Kombination nirgends geschah.® Dass man 
die Möglichkeit, aus diesen Erfahrungen zu 
lernen, nach der „Wende“ so gut wie unge- 
nutzt ließ, wird wohl vor allem darauf zu- 
rückzuführen sein, dass auch das völker- 
kundliche Fachverständnis in Ost und 
West ein anderes war und sich die Vorstel- 
lungen einer westlichen Ethnologie nur 
schwer mit den Inhalten eines an der so- 
wjetischen Ethnographie ausgerichteten 
Faches in Verbindung bringen ließen. 
Fremd blieb außerdem die in der DDR 
stark ausgeprägte Trennung zwischen Leh- 
re (Universität) und Forschung (Akade- 
mie), was zur Auflösung der Akademie- 
strukturen führte. Damit verlor das Fach 
einen von zwei Orten, an denen noch zu- 
vor Promotionen und Habilitationen mög 
lich waren, übrigens auch via Bautzen, 
Dresden oder Rostock, wo es nicht gelang, 
schnell ein Äquivalent zu schaffen. Aber 
wie hätte es aussehen sollen? 
Die naheliegendste Lösung wäre gewe- 
sen, nach der. Evaluation der Wissen- 
schaftsbereiche und in Verbindung mit der 
Neuordnung der Hochschullandschaft das 
Studienfach Volkskunde oder Europäische 
Ethnologie in jedem neuen Bundesland 
wenigstens an einem Standort (wieder) ein- 
zuführen und damit einen Gleichstand 
zwischen Ost und West herzustellen. An 
entsprechenden Vorschlägen und Versu- 
chen hat es m. W. nicht gefehlt. Freilich ist 
zu fragen, ob solche Ziele damals über- 
haupt zu verwirklichen gewesen wären und 
welche Voraussetzungen dafür bestanden. 
Bei nüchterner Betrachtung muss man fest- 
stellen, dass der akademische Bereich in 
den frühen 90er Jahren unter großen Nach- 
wuchssorgen litt und es Schwierigkeiten 
gab, selbst vorhandene Hochschullehrer- 
stellen qualifiziert zu besetzen. Der starke 
Zuspruch, den volkskundliche Lehrange- 
bote seit den 70er Jahren in Westdeutsch- 
land erfahren hatten, führte an den Univer- 
sitäten zu immer größeren Belastungen im 
Lehr- und Verwaltungsbereich, die nicht 
ohne Auswirkungen auf die Forschungs- 
vorhaben des um Qualifikation bemühten 
Nachwuchses blieben. Konkret fehlte es 
schon bald an Habilitierten, ohne die sich 
neue Studiengänge schlechterdings nicht 
einrichten lassen. Wie prekär die Situation 
in jenen Jahren war, hat Wolfgang Brück- 
ner 1994 in einem Beitrag festgehalten: „In- 
zwischen aber sind in unserem Fach in 
Deutschland mindestens zehn ProfessorIn- 
nen (von etwa 35 — M.S.) nicht habilitiert 
{vier C4, sechs C3), fünf nur kumulativ 
4abilitiert, und im Augenblick bis auf einen 
alle Habilitierten in Lebenszeitstellun- 
gen.“? Selbst wenn an dieser Zählung die 
eine oder andere Unstimmigkeit nachzu- 
bessern wäre, der aufgezeigte Trend behält 
seine Gültigkeit. Eine Alternative wäre der 
Rückgriff auf „fliegende Lehrkräfte“ gewe- 
sen, die noch vor der Wiedervereinigung 
gesucht wurden.!° Die Idee bestand in der 
Vermittlung hauptamtlich Lehrender, die 
im Nebenamt an Partner-Universitäten in 
Ostdeutschland am Aufbau neuer Studien- 
gänge mitwirken und in der Lehre aushel- 
fen sollten. Leider blieb diese Initiative 
ohne Resonanz im Fach und damit wohl 
auch der „volkskundliche Fuß“ an man- 
cher Universität nur vor statt in der Tür. 
Ein eigenes Kapitel stellt in diesem Zu- 
sammenhang der Umgang mit den ehema- 
ligen Kolleginnen und Kollegen aus der 
DDR dar, die für die Weiterführung bzw. 
Übernahme von Lehraufgaben qualifiziert, 
d. h. habilitiert waren. An scharfen Tönen 
hat es bei der Erörterung ihres beruflichen 
Schicksals nicht gefehlt, wie überhaupt an- 
zumerken ist, dass die Zeit des Kalten 
Krieges in mancher Polemik bis heute 
nachwirkt. Vermutlich waren diese Span- 
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