Stand der Diskussion und Perspektiven des Faches
Zur Situation der Volkskunde an den ostdeutschen
Universitäten
Michael Simon
Vorbemerkung
Die Einladung, an dieser Publikation mit-
zuwirken, erreichte mich ausgerechnet in
jenen Tagen, in denen ich meinen Schreib-
tisch am Institut für Sächsische Geschich-
te und Volkskunde in Dresden räumte, um
eine Professur für Kulturanthropologie/
Volkskunde an der Johannes Gutenberg-
Universität Mainz zu übernehmen. Der
Entschluss, nach knapp dreijähriger Be-
rufstätigkeit für den Freistaat Sachsen in
den Westen zurückzugehen, war insbeson-
dere unter dem Eindruck gewachsen, dass
die mit der Gründung des Dresdner Insti-
cutes in Aussicht gestellte Einrichtung ei-
nes volkskundlichen Studiengangs an einer
sächsischen Hochschule noch dauern wird
und keineswegs, wie immer wieder von mir
erhofft, unmittelbar bevorsteht. Zwar hatte
ich versucht, mit meiner Umhabilitierung
von Münster nach Leipzig das Meinige zur
akademischen Verankerung des Faches im
Lande beizutragen, und ich durfte erleben,
dass von verschiedenen Seiten dieser Ge-
danke selbstlos gefördert wurde. Gleich-
zeitig bekam ich aber auch immer wieder
einen starken Gegenwind zu spüren, der
das Ziel in die Ferne rücken ließ und mich
zu erheblichen Zweifeln führte, ob die vom
Institut als Verein (e. V.) in Angriff genom-
menen Forschungsprojekte ohne universi-
täre Einbindung meiner Herkunftsdiszi-
plin Volkskunde langfristig überhaupt zu
verfolgen sind. Es erübrigt sich, über mei-
ne Entscheidung detailliert zu berichten,
aber der Umstand als solcher erscheint mir
doch im Vorfeld bemerkenswert: Hier
schreibt kein Unbelasteter, der sich für die
Abfassung eines knappen Beitrages über
die Entwicklung des Faches. Volkskunde
(oder Europäische Ethnologie bzw. Empi-
rische Kulturwissenschaft) an den Univer-
sitäten in den neuen Bundesländern infor-
miert hat, sondern ein Betroffener, der mit
eigenen Erwartungen und Wünschen die
Geschehnisse verfolgt hat und dessen Mei-
nungsbild sich unter diesem Eindruck ver-
festigte. Natürlich werde ich mich im Fol-
genden um Sachlichkeit und eine „gerech-
te“ Darstellung bemühen, aber manchmal
wird es mir wahrscheinlich nicht gelingen,
in Euphorie über den Füllzustand jener
sprichwörtlichen Wassergläser zu verfallen,
die von anderen schon als halb voll gesehen
werden, mir aber noch halb leer erscheinen.
Zur Ausgangssituation
Über die Forschungs- und Ausbildungs-
strukturen der Volkskunde in der DDR
zur Zeit der „Wende“ haben Heike Müns
und Thomas Scholze 1991 in der Zeit-
schrift für Volkskunde einen nützlichen
Bericht geliefert.! Er dokumentiert sozusa-
gen die Ausgangsbedingungen, unter de-
nen sich das Fach nach 1989/90 entwickeln
konnte. Der Verlauf, von manchen zu-
nächst als behutsame Annäherung zwi-
schen Ost und West gedacht, bekam
schnell die Richtung eines konsequenten
Umbaus der vorgefundenen Wissen-
schaftslandschaft nach westlichen Stan-
dards. Über den Erfolg der Wiedervereini-
gung entschied damit die Anschluss-
fähigkeit der bestehenden Institutionen,
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