Alltagspraxis in den Institutionen der
gemeindepsychiatrischen Versorgung
Martina Klausner und Jörg Niewöhner
Einleitende Vorbemerkungen
Aktuelle Studien verzeichnen eine Häufigkeit von psychischen Störungen unter
Erwachsenen in Deutschland zwischen etwa fünf und zwanzig Prozent (Rich-
;er 2008). Ein Teil dieser Menschen wendet sich dem psychiatrischen Versor-
gungssystem zu. Dieses besteht neben der klinischen Versorgung vor allem aus
gemeindepsychiatrischen Angeboten, das heißt mehr oder weniger stark institu-
tionalisierten Hilfs- und Unterstützungsangeboten, wie Tagesstätten, betreutem
Wohnen, deren Koordination vor allem durch den Sozialpsychiatrischen Dienst
übernommen wird, sowie verschiedenen niederschwelligen Angeboten aus den
Selbsthilfebewegungen.
Dieses Sonderheft der Berliner Blätter führt Beiträge aus studentischen For-
schungsprojekten zusammen, die sich auf ethnographische Weise diesem so
genannten komplementären Sektor in Berlin genähert haben. Im Vordergrund
steht dabei der Alltag in diesen Institutionen und Gruppen: ihre Routinen, ihre
Selbstverständnisse, ihre Interaktionsformen. Der Zugang zu diesem sensiblen
Forschungsfeld verlief in allen sechs Forschungsprojekten über eine spezifische
Organisation oder einen Selbsthilfeverein.‘ Jedoch fokussieren alle Beiträge über
diesen institutionellen Zugang das Schnittfeld zwischen professioneller Betreu-
ıng und Sorge einerseits und den Erfahrungen, Vorstellungen und Alltagen der
Betroffenen andererseits. In diesem Spannungsfeld zeigen die Arbeiten, wie im
Alltag auf kleinster Ebene immer wieder Beziehungen neu ausgehandelt, Für-
sorge und Kontrolle ausbalanciert, Räume für Veränderung offen gehalten und
Erfahrungsmöglichkeiten neu konfiguriert werden.
Diese Einleitung bietet zunächst einen kurzen Überblick über die Entwick-
lung des gemeindepsychiatrischen Versorgungssystems in Deutschland seit den
späten 1960er Jahren. In einem zweiten Schritt diskutiert sie kurz drei theore-
üsche Bewegungen - von Normalität zu moving targets, von Alltag zu Praxis und
von Raum zu care -, die in der einen oder anderen Form in den Beiträgen auf-
gegriffen werden und die die unterschiedlichen Zugriffe bis zu einem gewissen
Grad verbinden. Die Einleitung schließt mit einer kurzen, überblicksartigen Vor-
stellung der einzelnen Aufsätze.
X
—
N
|