ETHNOGRAPHIE
UND GESCHICHTSFORSCHUNG.
Dr. G. J. DOZY.
VON
Es ist nicht zu verkennen dass bei Geschichtsforschern im Allgemeinen eine gewisse
Äleichgültigkeit vorherrscht ethnographischen Studien gegenüber. In gewissem Sinne lässt
sich dies freilich erklären. Beide, Ethnographie und Geschichte haben zwar die Menschheit
in ihrer Vergangenheit wie in ihrem Entwicklungsgange zum Gegenstand; und HEropoT,
den schon das Alterthum den Vater der Geschichte nannte, ist gewiss mit gleichem Rechte
als der erste Ethnograph zu betrachten. Wo aber die neuere Historiographie sich fast aus-
schliesslich mit dem Staatsleben beschäftigte, musste das Interesse für Ethnographie bei
den Geschichtsforschern sich verringern. Die historische Wissenschaft wurde vorwiegend
ine politische Wissenschaft. Die Staatsarchive bilden ihr Arsenal. Sie liefern die bestimmten
Thatsachen, mit denen der Historiker Rechnung zu halten hat. Die Ethnographie hat in
diesem Sinne kein Interesse für ihn. Sie könnte ihm vielmehr im Wege stehen, wenn er
aus ethnographischen Resten bei einem weiter vorgeschrittenen und vielfach gemischten
Volke Schlüsse ziehen wollte. Auf diesem Wege ist z. B. der verhängnissvolle Irrthum des
Panslavismus entstanden, ,
Bei solchen Schlüssen ist es unbedingt nothwendig den Gegensatz zwischen Volk und
Nation ins Auge zu fassen.
Das Volk, das nach und nach sich gebildet hat, als eine Erweiterung der Familie, hat
len einheitlichen Charakter eines Naturproduktes. Die gleichen Grundbegriffe äussern sich
ın der gemeinschaftlichen Sprache, in den gemeinsamen sozialen Einrichtungen , in denselben
’eligiösen Vorstellungen, selbst in einer bestimmten Bauart und Ornamentik. Es ist da
nichts Künstliches, nichts willkürlich Angenommenes; Alles steht, mit einander im engsten
Zusammenhange.
Die Nation hingegen ist ein Produkt historischer Momente. In den meisten Fällen
wird sie geboren unter der Feuertaufe des gemeinsamen Krieges. Das für dieselben Interessen
vergossene Blut bildet den Kitt, der die verschiedenen Elemente verbindet. Wenn unter
lem Drange äusserer Beziehungen das Volk seine Zusammengehörigkeit erkennt, wenn der
(ndividualismus freiwillig den gemeinsamen Interessen weicht, wird es zur Nation. Es erhält