KAP. I. EINLEITUNG.
S I]. HISTORISCHES.
Die Frage nach der Weiterentwickelung der germanischen Volksüberlieferungen in den
aussereuropäischen ‚Ansiedelungen ist. eine sehr interessante, wenn auch oft verwickelte,
namentlich da, wo der Boden ganz neue Verhältnisse bringt und wo die Kolonisten in-
stetigem und intensivem Verkehr mit andern Kulturvölkern und mit Eingebornen stehen,
wo ferner die alte Sitte durch freiere Formen aufgehoben wird, — da muss zweifelsohne
ein geistiger Austausch, ein Verlust und Gewinn, eine. Abschleifung und Neugründung
in viel stärkerem Grade ‚stattfinden als selbst unter der nivellierenden . Einwirkung der
modernen Kultur im alten Europa. Wohl nirgends in den europäischen Kolonien haben die
neuen Bedingungen: so eingreifend gewirkt als in Südafrika. Um das zu verstehen, müssen
wir ‚einen kurzen Blick. auf die Geschichte des Landes werfen. =
Die Kolonie.am Fusse des Tafelberges wurde 1652 als Zwischenstation für die Flotten
der niederländisch-ostindischen Compagnie gegründet. Die Bevölkerung bestand anfangs bloss
aus Dienern. und Soldaten der Gesellschaft, und wechselte fortwährend; man dachte nicht
Jaran, dort im fernen Süden eine dauernde Heimat zu gründen. Erst 1657 wurden die ersten
freien „Burgers”. auf dem Land ausserhalb der eigentlichen Niederlassung, der „Goede Hoop”,
angesiedelt; aber auch diese waren oft nicht Bauern von Beruf, sondern alte Beamte der
Compagnie, denen der neue Betrieb oft so misslang, dass sie es vorzogen, zu der früheren
Beschäftigung .zurückzukehren. Auch hier also noch eine unstete Bevölkerung, der anfangs
ausserdem die Haupträgerin der volkskundlichen Überlieferung fast vollständig fehlte, — die
Frau. Dazu blieb die Zahl. der Ansiedler lange sehr klein, es gab eben im blühenden
Mutterlande keine. Veranlassung zur Auswanderung, trotz der vielen Vergünstigungen, die
die Compagnie bot. Erst eine Generation später gelang es besser '). Bedenkt man noch, dass
Jie kleine Bevölkerung manche kosmopolitische Elemente in sich barg, dass wegen ihrer
Zerstreuung der gesellige Umgang als Erhaltungsfaktor sich: wenig wirksam entfalten konnte,
und dass die Trennung von Mutterlande schon seit 1735 den neuen Volksnamen „Afrikaner”
aufkommen liess ?), so wird es..klar, dass die Umstände für die heimatliche Überlieferung
sehr. ungünstig waren: .die geschlossene Kontinuität wurde vielfach unterbrochen.
Die. Spärlichkeit. der Bevölkerung wurde mit bedingt durch die Beschaffenheit des
Bodens,:der sich hauptsächlich zur Viehzucht, weniger zum Ackerbau eignet. Namentlich
seitdem. die .Compagnie.. den Viehhandel im J. 1700 den. Bürgern freigegeben hatte, wurde
die Viehzucht die beliebteste Beschäftigung; sie verursachte einen Hang zum Nomadisieren,
zur Einsamkeit, zur Abkehr vom städtischen Treiben 3. Neben Viehzucht und Acker- oder
Landbau sind sämtliche andere Berufe bedeutungslos, und damit fallen ganze Gebiete der
Volkskunde fort, die in Europa einen reichhaltigen Stoff aufweisen. Klima (subtropisch),
1) Theal. 1L.185—189; 345. . 2) T. III 325. 8) T. II 384. .