10
kennt, kennt man sie unter jenem Namen, oder auch unter dem Namen
Homme sauvage, Homo ferus.
Allein ist es denn an dem, daß uns die Verwilderten, Kulturlosen,
so viel zu erzählen haben? Was können die, die kulturlos sind, uns viel
zu erzählen haben?
Wie man es nimmt, sie erzählen uns sehr viel oder sehr wenig.
Sie sagen uns viel, indem sie uns mit unbezwinglicher Gewalt
davon in Kenntniß setzen, was denn eigentlich Kultur sei. Wer sie nicht
gehört hat, kann die richtige Begriffsbestimmung nicht geben. Sie er—⸗
zählen uns auch von der Menschheit, und hier wird ihre Rede besonders
nachdrucksvoll. Der Roman, den sie hier vor unseren Augen entrollen,
ist keines jener kraftlosen Erzeugnisse, wie sie so häufig in unsere Hände
gerathen; sondern seine Wirkung ist überwältigend. Und wenn sie ihn
geendigt haben, fangen sie an, auch von uns selbst und von Menschen—
werth zu sprechen. Wer sich selbst noch nicht kennen gelernt hat, der
nehme sich in Acht; er waffne seine Brust mit dreifachem Erze. Nur
ganz leise zwar dringen die Töne zu ihm, aber sie werden ihn dennoch
niederschmettern!
In anderer Beziehung sagen sie uns wiederum sehr wenig;
und insofern haben diejenigen recht, welche nicht viel von ihnen erwarteten.
Wir blicken sie an, aber unser Blick übt keine Wirkung auf sie aus.
Wir sprechen zu ihnen; sie hören den Schall unserer Worte, aber sie
vernehmen nicht den Sinn, der durch sie ausgedrückt werden soll. Je
mehr wir uns mit ihnen beschäftigen, eine um so größere Unruhe be—
mächtigt sich unser und endlich fühlen wir, daß uns vor ihnen Ent—
setzen ergreift und die Haare zu Berge steigen bei der Wahrnehmung, sie
seien stumm und vernunftlos. Kein menschliches Wort dringt von
ihren Lippen, keine Vernunft erhellt ihre Seele. Alles, was sie uns
erzählen, geschieht in wortlosen, aber erschütternden Monologen.
Womit lassen sich wohl die fern von der menschlichen Gesellschaft
und Kultur herangewachsenen Isolirten bis zu einem gewissen Grade
zutreffend vergleichen? Es liegt am nächsten, sie mit Edelsteinen zu ver⸗
gleichen, die nicht geschliffen worden sind. Dem Unkundigen unbemerkt
liegen sie glanzlos und unscheinbar unter Stoffen von gewöhnlicher Art
und häufigem Vorkommniß. Achtlos geht er an ihnen vorüber. Der
Kenner aber bemerkt ihr Blitzen und Leuchten, ehe sie geschliffen worden
sind und rettet sie vor dem Verlorengehen. Hiermit kommen wir jedoch
bereits an die Grenze ihrer Vergleichbarkeit mit Edelsteinen. Denn es
wird sich in der Folge mit Sicherheit ergeben, daß nicht alle kultur—
los aufgewachsenen Menschen sich in der Folge noch erziehen und aus—