VORWORT.
Die vorliegende Sammlung von ost-türkischen Sprichwörtern entstand während meiner
3xpedition nach Zentralasien‘) und zwar im Monat Oktober des Jahres 1905, als ich von Qomul
nach Kaschgar ritt, um die Ankunft des Direktors am Kgl. Museum für Völkerkunde, Herrn
Prof. Grünwedels, zu erwarten. Bis Aqsu ritt ich mit meinem getreuen. Begleiter, Herrn Bartus,
ınd der Wagenkaravane, dort aber übermannte mich die Ungeduld, und die Befürchtung,
1aß Grünwedel schon in Kaschgar sein könnte, veranlaßte mich, die Karavane unter Bartus’
veitung nachkommen zu lassen und mit einem Begleiter voranzueilen.
Dieser Begleiter war der mirab’) Mämäsit (Mähämmäd Saiyid) aus Qara Chödscha, ein
Beamter des Ämin Chödscham®), Wangs von Luk-Tschun, welchen mir dieser als einen der
»hinesischen Sprache und Etikette kundigen Dragoman (fungei bäk) zur Verfügung gestellt hatte.
Der mirab, der schon der ersten Turfan-Expedition unter Grünwedel und Huth gute Dienste
zeleistet hatte, war geradezu der Typus eines Mannes aus der einigermaßen erzogenen oberen
Mittelklasse seiner Nation; nicht ohne Energie, war er ziemlich frei von jener Habsucht und
ener verlogenen Unredlichkeit, die neben einer groben Sinnlichkeit die Hauptfehler einer im
allgemeinen liebenswürdigen Bevölkerung sind. Seine Geschäftserfahrenheit und seine Landes-
zenntnis*), seine Freude an unseren Arbeiten und sein drolliger, wenn auch etwas derber
Humor, machten ihn zu einem nützlichen und angenehmen Diener.
Mit diesem Mann zusammen legte ich die Strecke von Aqsu nach Kaschgar in neun Tagen
zurück, und um auf den langen Wegstrecken wenigstens etwas zu lernen, fragte ich ihn, ob
ar keine Sprüchwörter wüßte.
Zu meiner Freude und zu meinem Erstaunen zeigte er sich als eine schier unerschöpfliche
Mine von Sprichwörtern und Schnurren, die er unter unaufhörlichem Gelächter und ohne sich
zu unterbrechen von sich gab. Abends, im ärmlichen „dän‘“°) angelangt, wurde das Notiz-
buch hervorgeholt und die türkische vox populi nach seinem Diktat niedergeschrieben.
i) Erste Kgl. Preußische (Zweite Deutsche) Expedition nach Turfan in Chinesisch-Turkistan, 1904—07.
2) Mirab (sprich miraäp), auch bärandat (für baran-dad), auf Türkisch sü-nurnig bägi, ist in Turfan und Um-
yegend jener Beamte, der die Verteilung der Wasser eines Stromes in die verschiedenen Bewässerungskanäle
‘östärıg) und Gräben (ariq, eriq) zu überwachen und in besonderen Listen zu vermerken hat. (NB. „7z:‘‘ bezeichnet
den gutturalen Nasal. Als Konzession an die einheimische Schreibweise schreibe ich „/g“).
3) xöda, auch yöga (im gewöhnlichen Sprachgebrauch immer yögam, yödam) ist der allgemein übliche
Ausdruck, mit dem man die Abkömmlinge des Machdumi A’zäm, falls sie nicht regierende Fürsten sind, nicht
nur anredet, sondern auch im Gespräch bezeichnet... Regierende Mitglieder der Chödscha-Familie führen den
Titel „bäg (sprich bäk)“ oder „warıg bäk“ und werden „bägim“ angeredet und gesprächsweise unter demselben
fitel erwähnt. Für die Geschichte der Chödscha-Familie siehe M. Hartmann, Islam. Orient VI—X.
4) Kurz bevor der mirap in meinen Dienst trat, war er erst von einer 18 monatigen Reise zurückgekehrt,
die er als fung-&! bäk des ’Abd-us-sa'id Chödscham gemacht hatte. Letzterer ist ein Sproß der alten Fürsten-
‘amilie, der, als Kind von den Chinesen nach Peking geführt und dort chinesisch erzogen, des Türkischen nicht
mächtig ist. Seine Armut ist groß, und um ihr abzuhelfen, war ihm von den Chinesen gestattet worden, eine
Zettelreise durch das Land seiner Väter zu unternehmen. Sein Erfolg war bedeutend; er soll 20000 sär
(ca. 70000 Mark) von dem armen Volk gesammelt haben. — Ich sah diesen. harmlosen Sproß eines blutbefleckten
Geschlechts des öfteren in Qara Chödscha und in Qömul. 5) „dän“. Chinesischer Ausdruck (korrum-
piert) für die Rasthäuser, die in bestimmten Etappen an den Landstraßen (auch in der Wüste) errichtet worden sind.